Ankara/Istanbul. Ministerpräsident Davutoglu nennt nach Terrorakt drei verdächtige Gruppen, darunter den IS. Dreitägige Staatstrauer, Papst betet.

Die Zahl der Toten bei dem Terroranschlag in der türkischen Hauptstadt Ankara ist nach Angaben der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP auf 122 gestiegen. Ein HDP-Funktionär, der anonym bleiben wollte, sagte der Deutschen Presse-Agentur am Sonntag, die Opferzahl könne jedoch noch deutlich weiter steigen. Mehr als 500 Menschen seien verletzt worden. Zuletzt hatte die Übergangsregierung am Sonnabendabend mitgeteilt, 95 Menschen seien getötet und 246 verletzt worden.

Nach den zwei Bombenexplosionen hat Ministerpräsident Ahmet Davutoglu eine dreitägige Staatstrauer ausgerufen. Am Sonnabendmorgen waren bei einer regierungskritischen Friedensdemonstration vor dem Hauptbahnhof in der Hauptstadt zwei Sprengsätze detoniert. Der Anschlag war der schwerste in der jüngeren Geschichte der Türkei. In dem Land stehen in drei Wochen Neuwahlen für das Parlament an.

Davutoglu zufolge wurde der Anschlag wahrscheinlich von zwei Selbstmordattentätern verübt. Er verdächtigte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und zwei linksextremistische Terrorgruppen. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan versprach eine Aufklärung des Attentats.

Pro-Kurdische Partei macht Regierung Vorwürfe

Zu der Demonstration hatten die pro-kurdische Partei HDP und andere regierungskritische Gruppen aufgerufen. Die HDP sah sich als Ziel des Anschlags und machte der politischen Führung des Landes schwere Vorwürfe. In der Millionenmetropole Istanbul demonstrierten am Abend rund 2000 Menschen gegen die Regierung. In Sprechchören wurde die PKK zu Vergeltungsaktionen aufgefordert.

Ende Juli war der Konflikt zwischen türkischer Regierung und PKK eskaliert. Beide warfen sich gegenseitig vor, einen mehr als zwei Jahre anhaltenden Waffenstillstand gebrochen zu haben. Seither verübt die PKK immer wieder Anschläge auf Sicherheitskräfte im Südosten der Türkei. Die Armee wiederum fliegt regelmäßig Luftangriffe gegen PKK-Stellungen in der Türkei und im Nordirak.

Erdogan äußert sich zu dem Anschlag

Erdogan erklärte zu dem Anschlag: „Ich verurteile diesen abscheulichen Angriff zutiefst, dessen Ziel die Einheit, Solidarität und der Frieden unseres Landes gewesen ist.“ Der Ko-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, hingegen sagte: „Das ist kein Angriff auf die Einheit unseres Landes oder dergleichen, sondern ein Angriff des Staates auf das Volk.“ Er fügte an: „Ihr seid Mörder. An Euren Händen klebt Blut.“

Vor dem EM-Qualifikationsspiel der türkischen Fußball-Nationalmannschaft in Tschechien gab es eine Schweigeminute
Vor dem EM-Qualifikationsspiel der türkischen Fußball-Nationalmannschaft in Tschechien gab es eine Schweigeminute © dpa

Demirtas kritisierte, die islamisch-konservative Regierung habe weder den Anschlag auf pro-kurdische Aktivisten im Juli im südtürkischen Suruc noch den auf eine HDP-Wahlveranstaltung im Juni in der Kurdenmetropole Diyarbakir aufgeklärt.

Ein HDP-Funktionär, der anonym bleiben wollte, sagte der Deutschen Presse-Agentur, die Führung des Landes habe den Anschlag „entweder organisiert oder nicht verhindert“. Die Verdächtigungen Davutoglus nannte er „Unsinn“. Möglicherweise wolle die Regierung den Anschlag dazu nutzen, die für den 1. November geplante Neuwahl abzusagen.

Bilder von Anschlag untersagt

Wie die Nachrichtenagentur Anadolu meldete, wurde die Aussendung von Bildern des Anschlags und des Geschehens danach untersagt. Das Büro des Ministerpräsidenten habe für das Verbot Gründe der öffentlichen Sicherheit vorgebracht.

US-Präsident Barack Obama sprach nach Angaben des Weißen Hauses in einem Telefonat mit Erdogan von einer heimtückischen Attacke und bekräftigte die Solidarität der Amerikaner mit der türkischen Bevölkerung im Kampf gegen Terrorismus. Auch EU-Ratspräsident Donald Tusk sicherte der Türkei Unterstützung zu. „Die Europäische Union steht an der Seite der Türkei, seiner Bürger und der Behörden, wenn es um den Kampf gegen Terrorismus und die Bemühungen um Aussöhnung geht“, ließ er mitteilen.

Merkel spekuliert in Schreiben an Davutoglu

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) schrieb an Davutoglu, sollte sich bestätigen, dass es sich wie vermutet um die Taten von Terroristen handele, „dann handelt es sich um besonders feige Akte, die unmittelbar gegen Bürgerrechte, Demokratie und Frieden gerichtet sind“. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sagte, die Täter wollten offensichtlich vor den Wahlen ein Klima der Angst schüren.

Mehrere Hundert Demonstranten zogen auch durch Hamburg
Mehrere Hundert Demonstranten zogen auch durch Hamburg © dpa

Auch in mehreren deutschen Städten gingen nach dem Anschlag spontan Hunderte Menschen auf die Straße. Pro-kurdische Demonstrationen gab es unter anderem in Berlin, Hamburg, Frankfurt/Main und Stuttgart. Die Polizei sprach von einem friedlichen Verlauf der Proteste.

Türkei verschiebt Gespräche mit EU-Vertretern

Am Sonntag bat die türkische Regierung die EU um eine Verschiebung der Gespräche über die Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise. Der Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, und Nachbarschaftskommissar Johannes Hahn sagten am Sonntag eine für den gleichen Tag geplante Reise in die Türkei ab. Man hoffe nun auf einen Gesprächstermin am kommenden Mittwoch, teilte die EU-Kommission mit.

Die EU will die Türkei dazu bewegen, in der Flüchtlingskrise enger mit ihr zusammenzuarbeiten. Sie erhofft sich davon eine Begrenzung des Flüchtlingszustroms. Über die Türkei reisten zuletzt Zehntausende Menschen aus Ländern wie Syrien, Afghanistan und dem Irak in Richtung EU.

Der EU-Kommission kommt die Verschiebung der Gespräche ungelegen. Sie will eigentlich am Donnerstag beim EU-Gipfel in Brüssel Ergebnisse der seit Wochen laufenden Verhandlungen mit der Türkei präsentieren. Die Staats- und Regierungschefs müssen darüber entscheiden, was der Türkei im Gegenzug für mehr Kooperation angeboten werden kann. Die Regierung in Ankara fordert unter anderem ein Ende der Visapflicht für türkische Bürger bei Reisen in EU-Staaten.

Papst trauert um Ankara-Opfer

Unterdessen sprach auch Papst Franziskus den Opfern des Terroranschlags sein Mitgefühl aus und betete für sie. „Gestern haben wir mit großem Schmerz die Nachricht von dem schrecklichen Attentat in Ankara in der Türkei erhalten“, sagte der 78-Jährige am Sonntag nach dem Angelus-Gebet auf dem Petersplatz in Rom.

„Schmerz wegen der vielen Toten. Schmerz wegen der Verletzten. Schmerz, weil die Attentäter wehrlose Menschen getroffen haben, die für den Frieden demonstriert haben.“ Der Argentinier sagte vor Zehntausenden Pilgern, er bete für die Türkei und die Opfer des Anschlags in Ankara und bitte den Herrn, „die Seelen der Verstorbenen aufzunehmen und die Leidenden und die Angehörigen zu trösten“.