Bischöfin Kirsten Fehrs trifft zu Weihnachten auf Gelegenheitsgläubige und Suchende. Für das Abendblatt hat sie eine Typologie der Kirchengänger erstellt - und sich dafür auch selbst hinterfragt.

Hamburg. Manche von ihnen gehen einmal im Jahr in die Kirche – wenn überhaupt. Viele wissen weder das Vaterunser auswendig noch kennen sie das Glaubensbekenntnis. Sie wissen nicht, wann man in der Kirche aufsteht. Oder was eine Kollekte ist. Es sind „Weihnachtschristen“. Und ich freue mich auf sie. Sehr sogar.

Es ist immer eine besondere Atmosphäre, wenn am Heiligen Abend alle beieinander sitzen. Dicht gedrängt, man bestöhnt und genießt es zugleich. Kinder im Festanzug sitzen neben älterer Dame im Pelz; die Familie, die es gerade eben geschafft hat, rückt schnell noch in die Bank neben den koreanischen Christen mit seiner Bibel; das verliebte Pärchen braucht sowieso nur einen Platz. Und der Mittvierziger, der nur den anderen zuliebe mitgegangen ist, vermutet, dass es ihm auch dieses Jahr nicht gefallen wird. Zu viel Wortgeklingel und Zimbelstern, man will ja schließlich auch etwas für den Intellekt.

Und während ich mich innerlich vorbereite, gleich ans Pult zu gehen und zu sagen: „Ich freue mich, dass Sie hierher in Gottes Haus gekommen sind. Sehr sogar“, frage ich mich oft, was in all diesen Menschen vorgeht. Was sie erwarten, brauchen, ersehnen – vielleicht auch von mir.

Endlich entspannen, so denken sicher die einen. Jetzt am Jahresschluss, nach Bilanzen von Zahlen und anstrengenden Rechenschaften, ist das Bedürfnis nach Ruhe und Schlaf fast übermächtig. Die junge Mutter und der Vater daneben sind die ganze Zeit damit beschäftigt, ob sie das alles schaffen mit dem Braten und der Bescherung – und bangen, ob ihr kleiner Sohn wenigstens diese Stunde noch ein bisschen ruhig ist; ich sehe, sie nehmen ihn in den Arm. Das ist auf einmal ganz innig. Oder die Dame, die fein gemacht ihre Contenance behält – ist sie doch eigentlich untröstlich über den Verlust eines Menschen, der ihr viel bedeutet hat. Heute schmerzt es besonders.

Nicht alle gehen in erster Linie in die Kirche wegen ihres oder wegen eines Glaubens. „Aber sie sehen zu, wie andere glauben“, sagt einfühlsam der Theologe Fulbert Steffensky. „Und das ist wohl auch ein Stück Glaube. Ein Glaube auf Zeit und ein Glaube bei Gelegenheit! Wer wollte ihn verachten!"

Recht hat er. Es ist so viel Sehnen und Denken, Freude und Schmerz, all das, was Menschen ruhig machen und berühren kann im Kirchenraum. Und ich bin sicher, all die unterschiedlichen Menschen und ihre Lebensgeschichten verbindet eines: die Suche nach Segen. Danach, dass diese eigentümlich vertraute alte Sprache und das „Es begab sich aber zu der Zeit“ einem Heimat gibt und Geborgenheit. In stiller Nacht, endlich still, in der der Friede neu geboren werden will.

„Getrieben von einer unklaren Sehnsucht“

Und so finden sie sich alle ein. Neben den Christen, versteht sich, die auch andere Gottesdienste kennen und mit der gleichen Sehnsucht in den Heiligabend-Gottesdienst kommen. Er ist wichtig auch für sie, ganz zu schweigen von den Pastorinnen und Pastoren. Einer von ihnen erzählte mir kürzlich sein Schlüsselerlebnis dazu: Heiligabend, 23 Uhr, eine kleine Kirche im Hamburger Westen. Die Christmette ist zu Ende, der letzte Gottesdienstbesucher gegangen. Erleichtert und ein bisschen erschöpft will er die Tür abschließen.

Da kommen plötzlich aus der Dunkelheit sieben, acht junge Leute. „Ist hier jetzt Gottesdienst?“ „Nein“, sagt der Pastor, „gerade zu Ende. Kommt doch morgen wieder.“ „Oooch, schade, wir laufen jetzt schon eine halbe Stunde hier rum und suchen eine Kirche, die noch offen hat.“ Der Pastor überlegt kurz, hat ein Einsehen. Er öffnet die Tür, zündet die Kerzen wieder an. Liest die Weihnachtsgeschichte, wiederholt aus dem Gedächtnis die drei wichtigsten Gedanken seiner Predigt.

Inzwischen haben sich noch weitere Menschen in der Kirche eingefunden. Ein verliebtes Paar. Ein Obdachloser. Eine alte Frau samt Hund. Gemeinsam singen alle „O du fröhliche“. Dann verabschiedet man sich. „Da habe ich erst verstanden“, sagte mir der junge Kollege, „wie viele Leute in dieser Nacht in der Stadt unterwegs sind, suchend, getrieben von einer unklaren Sehnsucht.“

Und ich selbst? Ich bin die Christin, die sich in dieser Heiligen Nacht danach sehnt, dass der Stern von Bethlehem auch über unserer Stadt leuchten möge. Die dankbar ist, so vielen Menschen begegnen zu dürfen, die sich von dem Licht über der Krippe berühren lassen. Die so nachdenklich sind und friedenssehnsüchtig, die die Hoffnung auf eine bessere Welt in ihr Herz strömen lassen. Am Schluss vielleicht sogar schmunzeln über den unvermeidlichen Zimbelstern, wenn wir – wir gemeinsam – singen: „O du fröhliche“.