Die Deutschen in den vergangenen 65 Jahren – was sie liebten, was sie trugen, was sie aßen, was sie hörten. Gehen Sie hier auf Kurzreise durch die Jahrzehnte.

1948

Die D-Mark kommt, und mit ihr beginnt das Wirtschaftswunder. Der Durchschnittsdeutsche isst mehr Brot und Kartoffeln, aber viel weniger Fleisch als heute: 4,8 statt 89 Kilo. Und er trinkt auch weniger: 23,4 Liter Bier pro Kopf und Jahr – heute ist es viermal so viel. Supermarkt und Selbstbedienung sind noch Zukunftsmusik. Im Tante-Emma-Laden gießt die Verkäuferin Milch in mitgebrachte Kannen, fischt Salzheringe aus der Tonne und wickelt Butter in Pergamentpapier. Kaffee gibt es in Bohnen, Suppe in Würfeln, Senf im Glas, Zucker in Tüten. Besen sind aus Reisig, Kämme aus Horn, Taschentücher aus Stoff, Nachttöpfe aus Blech. Der durchschnittliche Monatsverdienst liegt bei 280 D-Mark. Auf den Straßen fahren Pferdefuhrwerke, und Radfahrer müssen immer warten, denn in der Straßenverkehrsordnung gilt „Motorkraft vor Muskelkraft“. Das teuerste deutsche Auto ist der Opel Kapitän: 10.000 D-Mark, 55 PS, Spitze 120 km/h, von null auf 100 in 29 Sekunden. Im Sommer fährt der erste Reisebus von Hamburg nach München, im Winter bringt der erste Sonderzug Skifahrer in die Alpen. Den Schlager des Jahres singt Margot Hielscher: „Der Theodor im Fußballtor“.

1950er-Jahre

Wellen rollen durch das Land: Erst die Fresswelle, dann die Reisewelle: Die Deutschen werden dicker und mobiler, dabei haben die meisten nur neun Tage Urlaub im Jahr. Die ersten Charterflieger starten Richtung Mittelmeer. Autofahrer kurven über den Brenner an die Adria, die man schnell „Teutonengrill“ nannte: Rimini, Cattolica, Riccione. Mallorca ist noch so exklusiv wie Mauritius, nur wenige Hundert Deutsche nehmen die lange Anreise per Bahn und Schiff auf sich. In ihre Wohnungen ziehen Nierentisch, Stehlampe und Musiktruhe ein. Auf der Fernsehtruhe stehen Zimmerantenne, Chiantiflasche mit Tropfkerze und Zigarettenigel. Frauen tragen Pferdeschwanz, Petticoat und Nylonstrümpfe, die Jeans aus Amerika heißen noch „Nietenhosen“. Auf dem Bau kommt die 45-Stunden-Woche, aus den USA die Rabattmarke, und Heroin gilt noch als Hustenmittel. Autofahrer kassieren die ersten Punkte in der Flensburger Verkehrssünder-Datei. Junge Leute üben mit Hula-Hoop-Reifen den Hüftschwung. Buch des Jahres 1958 wird das Israel-Opus „Exodus“ von Leon Uris, das später mit Paul Newman in der Hauptrolle verfilmt wird. Der Schlagersänger Fred Bertelmann beschreibt als „Der lachende Vagabund“ ein neues Lebensgefühl der Deutschen: unbeschwerter Optimismus. Im Kino begeistert Marlene Dietrich als „Zeugin der Anklage“ die Welt.

1960er-Jahre

Die Deutschen werden anspruchsvolle und bequemer. Es gibt Fertiggerichte, Teppichböden, Teflonpfanne, Geschirrspüler, Klettverschluss. Der Supermarkt siegt, Tante Emma geht in Rente, und bald ist jedes dritte Lebensmittel in Kunststoff verpackt. Discounter führen die Komma-Preise ein, statt zwei D-Mark zahlt der Kunde 1,99 und lässt sich rausgeben, denn wer den Pfennig nicht ehrt… Das Fernsehen macht den Familienkreis zum Halbkreis, es gibt zwei Programme, ARD und ZDF, und auch schon in Farbe. Der erste Straßenfeger heißt „Die Gentlemen bitten zur Kasse“. Der Chemieriese Bayer stellt eine serientaugliche Kunststoffkarosserie vor, doch nur der Trabi im Osten nutzt die neue Leichtigkeit.

Der deutsche Tourist reist jetzt gern fern und erholt sich im Ferienclub „all inclusive“. Der Minirock legt Knie frei, Damen basteln sich Bienenkorbfrisuren und stehen auf Plateausohlen. Die Herren lassen die Haare wachsen, und alle Hosen haben Schlag. Die Antibabypille senkt die Geburtenrate, und Oswald Kolle knipst den Deutschen im Schlafzimmer das Licht an. Die 68er heißen noch „Gammler“ und reimen: „Haschu Haschisch in den Taschen, haschu immer was zu naschen.“ Siegfried Lenz schreibt die „Deutschstunde“. Sergio Leone dreht den Spaghettiwestern „Spiel mir das Lied vom Tod“, und Hollands Kinderstar Heintje singt sich mit seiner „Mama“ in Herzen und Hitparaden.

1970er-Jahre

Die Emanzipation schreitet voran, Damen bevorzugen Businesslook in Oversize mit breiten Schultern. Für die Jugend gibt es Hippie, Disco oder Punk, und mit Englands Topmodel Twiggy die Vorbotin des Schlankheitswahns. Auf dem Kopf ist alles erlaubt: Afro, Irokese, Grün, Blau, Lila. Auch die sexuelle Revolution geht weiter, jetzt mit Telefonsex und Peepshows. Die Wohnzimmer werden zu Sitzlandschaften mit Drehsesseln in Braun und Orange auf Flokati zwischen raumhohen Schrankwänden. Auf der obligatorischen Stereoanlage bricht die Neue Deutsche Welle herein, und der Toilettendeckel bekommt einen Überzug. Das Tanzlokal wird zur Disco mit Deckenkugel, auf den Kleidern glitzern Pailletten, die Standardtänze sterben aus. Johannes Mario Simmel schreibt den Bestseller „Hurra, wir leben noch“, Boney M. singt „Rivers of Babylon“, und der Film des Jahres 1978 heißt „Superman“. Das Volk der Kartoffelesser steigt auf Joghurt, Quark und Hüttenkäse um, entdeckt die Nouvelle Cuisine und trinkt alkoholfreies Bier. Beliebteste Fernsehstars sind zwei Zeichentrickfiguren von Loriot, der Hund Wum und der Elefant Wendelin, vorgestellt von ZDF-Showmaster Wim Thoelke. Der erste Hamburger Computer füllt einen Konferenzsaal und wiegt so viel wie ein Sattelschlepper.

1980er-Jahre

Die 80er-Jahre kommen mit Nietengürtel, Karottenjeans, bunten Föhnfrisuren, Stirngardinen und dem legendären Vokuhila. Die Damen polstern sich immer noch die Schultern, die Herren werden plötzlich bunt, vor allem auf Hemd und Schlips. Baden oben ohne wird selbstverständlich, doch dann hat die sexuelle Revolution plötzlich Pause, denn Aids macht den frisch Befreiten Angst. Die Republik isst wieder deutsch, aber weiter kalorienarm, und Schwein ist out. Die ersten Lebensmittelskandale verderben den Appetit: Hormone im Kalb oder Chemie im Olivenöl machen Biokost populär. Der neue Wohnstil kommt aus Skandinavien: viel Holz, hell, leicht. Der Computer verdrängt die Schreibmaschine und übernimmt auch zu Hause das Kommando. Die Wegwerfgesellschaft türmt Müllberge auf, und Deutschland wird zum Archipel der Wertstoffinseln. Das Privatfernsehen beendet die Langeweile des öffentlich-rechtlichen Monopols. Dustin Hoffman und Tom Cruise brillieren in dem Autisten-Drama „Rain Man“. Das Discopop-Duo Milli Vanilli schafft mit „Girl, you know it’s true“ den Hit des Jahres 1988, und durch die Diskotheken pumpt Techno-Beat.

1990er-Jahre

Das Leben im wiedervereinigten Deutschland beschleunigt sich unaufhörlich: Auto, Bahn, Computer werden noch schneller. Das Handy beginnt seinen Siegeszug, und das Internet wird Massenmedium. Das neue Fax bekommt Konkurrenz durch die noch neuere E-Mail. Der Herd verlässt die Küchenwand und macht sich mittig. Hausfrau ist nur noch Zweitberuf, doch die Hausarbeit verlangt immer mehr technisches Know-how. Die Unterhaltungselektronik nimmt dem Buch die Leser weg, der Discman killt den Walkman, der Videoclip lässt das Auge mithören, und Computerspiele machen Massen zu Stubenhockern. Die Deutschen werden wählerisch, achten auf Haltbarkeitsdaten und fangen im Laden zu feilschen an. Der Wohnstil wird mediterran, der Deutsche fährt Cabrio und speist am liebsten im Freien. Die Trends setzt jetzt eine „Generation Golf“ mit ausgeprägtem Mode- und Markenbewusstsein. Die Frauen ziehen sich wieder femininer an, doch die knapp über dem Steißbein tätowierten Fantasieornamente werden als „Arschgeweih“ oder „Schlampenstempel“ zum Streitfall zwischen Eltern und Töchtern. In der Musik liefert eine Spaßfraktion um Guildo Horn die Hits. Die Belletristik wird weiblich, Bestseller des Jahres 1998 ist Marianne Fredrikssons Generationenroman „Hannas Töchter“. An den Kinokassen bricht die „Titanic“ mit Leonardo DiCaprio und Kate Winslet alle Rekorde.

Heute

Die Finanzkrise erschüttert das Vertrauen der Deutschen in den Staat, die Wirtschaft und die eigene Zukunft. Die schlechte Stimmung drückt aber nur kurz auf den Konsum. Smartphone und soziale Medien nehmen immer mehr Deutsche an die Online-Leine. Das Zuhause wird zum Zweitbüro und sieht auch so aus: technisch, funktional. Unterschied: Gearbeitet wird im Großraum, gewohnt im Single-Apartment. Die Retro-Schlafcouch kommt aus den Siebzigern, das Home Entertainment aus der White Box und die „Küche für den Mann“ von Porsche. Die Mode ist lässig, aber edel und feminin. Die Herren lassen den Schlips im Schrank, und die Öko-Bewegung zeugt eine „Green Luxury“ mit biologisch unbedenklichen Textilien. Eine Inflation von Kochsendungen macht den Deutschen Appetit, und aus Amerika kommt der Coffee-to-go. Das Lebensgefühl ist öko, der Lebensstil nicht: Schwere SUVs erobern die Straßen, Fernreisen können gar nicht fern genug sein, sogar das Obst wird eingeflogen. Die Deutschen werden immer älter, zugleich stellen Soziologen eine Infantilisierung der Gesellschaft fest. Charlotte Roches „Feuchtgebiete“, Bestseller 2008, wird verfilmt.

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