Chefredakteur Lars Haider über den technischen Wandel, neue Herausforderungen, die vier „eisernen Regeln“ und das besondere „Hamburg-Gefühl“ des Abendblatts.

Liebe Leserinnen und Leser,

in meinem ersten Jahr beim Hamburger Abendblatt waren die Computer noch kleine, klobige, ach was: hässliche Kästen mit hellgrüner Schrift auf dunkelgrünem Monitorgrund. Neben meinem Schreibtisch tickerte unentwegt der Drucker mit den Meldungen der Nachrichtenagenturen, jede Viertelstunde kam der schichtführende Redakteur, um einen Packen Zettel abzureißen und nach Wichtigkeit zu sortieren. Ich weiß nicht, ob es damals schon die Möglichkeit gab, intern Botschaften über ein Datennetz zu verschicken.

Genau erinnere ich mich aber an die Rohrpost, die mit den Geräuschen einer einfahrenden S-Bahn ankündigte, dass dem Sportressort, in dem ich angefangen habe, etwas geschickt worden war. Meist kam die Röhre aus dem Fotolabor, das es damals im Erdgeschoss des Axel-Springer-Hauses an der Caffamacherreihe noch gab. Gerade am Wochenende gingen im Stundentakt Probeabzüge von wichtigen Fußballspielen in der Redaktion ein. Man nahm eine Lupe, schaute sich die Auswahl an und markierte diejenigen Bilder, die man gern größer entwickelt haben wollte.

Spielte der HSV spät am Sonntagabend, ließ der Fotograf seinen Film in der Halbzeit per Taxi aus dem Stadion in die Redaktion bringen und rief dann von seinem tragbaren Telefon an, um zu fragen, ob etwas Passendes dabei gewesen sei. Das Ding war so groß wie ein Koffer, und trotzdem war ich sehr stolz, als ich das „Handy“ bei einem Tennisturnier auch einmal benutzen durfte.

Technisch hat sich viel getan

So war sie damals, meine erste Zeit beim Hamburger Abendblatt, und wenn ich die obigen Zeilen noch einmal lese und mit unserer heutigen Arbeitsweise vergleiche, kommt es mir vor, als müssten seitdem mindestens 100 Jahre vergangen sein. Tatsächlich geht es im ersten Absatz aber um die Mitte der 90er-Jahre: So lange ist das nämlich mit dem Fotolabor, mit den Agenturdruckern und mit Konferenzen, in denen der Ressortleiter die Abendblatt-Seiten auf großen Papierbögen wie Kunstwerke entwarf, noch gar nicht her.

Technisch geändert hat sich seitdem nahezu alles. Journalisten haben Handys, Smartphones, Tabletcomputer, sie können von jedem Punkt der Welt jede Information, jedes Foto und jeden Text an die Redaktion senden. Das Hamburger Abendblatt ist Zeitung geblieben und Online-Medium geworden: Es gibt uns auf allen möglichen Plattformen, auf Computern, auf mobilen Endgeräten, in sozialen Netzwerken wie Facebook, als abendblatt.tv – und morgen vielleicht schon auf einer Art digitalem Papier?

„Eine Zeitung hat nie ihre endgültige Form gefunden, sie entwickelt sich ständig, passt sich dem Markt und den Lesegewohnheiten an“, heißt es dazu in dem Leitfaden „Das Abendblatt ist mehr als nur eine Zeitung“, den „goldenen Regeln für Redakteure, Reporter und Fotografen einer modernen Weltstadt-Zeitung“.

Und weiter: „Zeitungsleute hatten es, wenn sie ihren Beruf ernst nahmen, noch nie leicht. Sie werden es auch in Zukunft nicht leichter haben. Im Gegenteil: Weniger als je zuvor wird der Beruf des Journalisten ein Beruf wie jeder andere sein – wenn er es überhaupt jemals war.“

Und schließlich: „Es ist schwer, für das Abendblatt zu arbeiten, denn das Abendblatt ist keine Zeitung wie jede andere. Alle Zeitungen stehen vor einem einschneidenden Strukturwandel. Beim Abendblatt hat diese Zukunft schon begonnen.“

Dem ist wenig hinzuzufügen, die Aussagen sind so eindeutig wie wahr, und sie passen großartig an den Beginn einer Sonderausgabe zum 65. Geburtstag. Nur: Sie stammen leider nicht von mir, sie sind nicht einmal aus diesem Jahrhundert. Der Leitfaden für die Hamburger-Abendblatt-Redaktion, in dem ich die Zitate gefunden habe, erschien zum ersten Mal 1980 (!).

Die vier zeitlosen Grundsätze des Abendblatts

80 Seiten ist die DIN-A5-Broschüre dick, der Umschlag mag einmal Abendblatt-grün gewesen sein, inzwischen schillert er leicht gelb. Aber dazwischen werden schon damals die richtigen Fragen gestellt, zum Beispiel: „Wie muss das Hamburger Abendblatt aussehen, wenn es den Wettbewerb mit den elektronischen Medien (…) bestehen will? Was erwartet der Leser von seiner Zeitung?“

Und, viel wichtiger, es werden die richtigen Antworten gegeben:

Erstens: „Für das Hamburger Abendblatt ist die Nachricht wichtig, die hinter der Nachricht steckt. Der Leser darf nie denken: ,Das weiß ich schon, das habe ich schon gehört oder gelesen.‘ Er muss überrascht sein und sagen: ,So habe ich es noch nicht gelesen.‘“

Zweitens: „Das Hamburger Abendblatt ist bewusst und gewollt vor allem eine Lokalzeitung. Wichtige Belange Hamburgs müssen immer im Vordergrund stehen. Das gilt besonders für die Seite 1.“

Drittens: „Was immer und worüber immer wir schreiben: Der Mensch ist für uns wichtiger, fast immer auch interessanter als die Sache. Schreiben wir also, wenn es geht, immer zuerst über den Menschen und dann über die Sache.“

Viertens: „Die Zeitung ist für den Leser da. Das bedeutet für den Abendblatt-Redakteur: Er muss, wenn er Zeitung macht, zuerst an den Leser denken, an den Reeder wie an den Lebensmittelkaufmann, an den leitenden Angestellten wie an die Hausfrau. Er muss in deren Haut schlüpfen. Was hilft ihnen? Was dient ihnen? Was können sie noch wissen wollen?“

Es ist fast unheimlich, wie diese in der Broschüre „eiserne Regeln“ genannten Grundsätze auch heute, 33 Jahre und etliche technologische Revolutionen später, gelten. Und das soll auch die Botschaft dieses Editorials sein: Es hat sich viel in den 65 Jahren seit der Gründung des Hamburger Abendblatts geändert – aber in ihrem journalistischen Kern ist sich Ihre und unsere Zeitung treu geblieben.

Nennen Sie, liebe Leserinnen und Leser, es, wie Sie wollen: „Mit der Heimat im Herzen die Welt umfassen“, „Menschlicher Journalismus mit Niveau“, wie es uns einmal ein langjähriger Abonnent bescheinigte, „Gedrucktes Hamburg-Gefühl“, „Kein Hamburg ohne Abendblatt“.

Diese Zeitung wollte nie eine Zeitung wie jede andere sein, sie schielte auch nie auf große Auflagen außerhalb Hamburgs und der sogenannten Metropolregion. Das Hamburger Abendblatt möchte seit 65 Jahren die Zeitung in Hamburg und Umgebung sein – nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Hier sehen wir, um es noch einmal mit dem Leitfaden von 1980 zu sagen, unsere „größte Chance und unsere wichtigste Aufgabe: über alles so umfassend wie möglich zu berichten, was sich in der Stadt und im Großraum Hamburg ereignet“. Ob das nun in der klassischen Zeitung auf Papier (die es übrigens immer geben wird!), auf dem Smartphone oder einem Medium geschieht, das heute noch gar nicht erfunden ist – egal. Wir sind ja schließlich keine Holzhändler, sondern Journalisten.

Eine Zeitung für „echte“ Hamburger

Ich persönlich lese das Hamburger Abendblatt seit ziemlich genau 30 Jahren. Mit 13 habe ich damals angefangen, wie so viele Jungen mit dem Sportteil und dem Ausfüllen der Fußball-Bundesliga-Tabelle, und bin bis heute nicht davon losgekommen. Auch das klingt nach einer langen Zeit, ist für die meisten unserer mehr als 150.000 Abonnenten aber völlig normal, unglaublich viele sind seit mehr als 40 Jahren dabei. „Echte Hamburger lesen das Abendblatt“ hieß es vor Kurzem auf unserer neuen Plakatkampagne, und das stimmt.

Wobei das mit den „echten Hamburgern“ nicht falsch zu verstehen ist: Uns geht es nicht um eine Frage der Geburt, sondern um eine Frage des Gefühls – des Gefühls für eine Stadt, die andere manchmal ratlos macht. Eine Stadt, die Helmut Schmidt genauso verehrt wie Heidi Kabel, die John Neumeier genauso zum Ehrenbürger ernennt wie Uwe Seeler. Dieses Hamburg mit seinen Hamburgern, die einerseits berühmt ob ihres hanseatischen Understatements sind, andererseits aber von ihrer Stadt gern „als der schönsten der Welt“ sprechen.

Wer eine Zeitung für eine Großstadt machen will, muss diese nicht nur verstehen, er muss sie auch mögen. Das ist in Hamburg zum Glück leichter als anderswo, und deswegen ist das Hamburger Abendblatt auch anders als andere Zeitungen. Was mit Springers „Seid nett zueinander“ vor 65 Jahren begann, hält sich bis heute in einer positiven Grundeinstellung zur Stadt, die dankenswerterweise oft mehr positive als negative Nachrichten liefert.

Was für Hamburg gut ist, ist auch für das Hamburger Abendblatt gut – was für Hamburg schlecht ist, muss das Hamburger Abendblatt anmahnen, im besten (journalistischen) Fall aufdecken. Oder, um es ganz klar zu sagen: Wir müssen aufpassen, dass hier nichts schiefläuft. Das galt für die vergangenen 65 Jahre, und das gilt für die nächsten.

Liebe Leserinnen und Leser, in dieser Sonderausgabe wollen wir nicht nur uns, sondern auch Sie feiern, und damit geht es gleich auf der nächsten Seite los. Sie, die Abonnenten, die Käufer an Kiosken und Tankstellen, die Online-Nutzer und TV-Zuschauer, haben aus dem Hamburger Abendblatt eine der bekanntesten, erfolgreichsten und renommiertesten Regionalzeitungen Deutschlands gemacht.

Exakt zwei Wochen vor dem Geburtstag am 14.Oktober sind wir auf der Wartburg in Eisenach mit dem „Deutschen Lokaljournalistenpreis“ für unser Gesamtkonzept geehrt worden. Das ist die wichtigste Auszeichnung der Branche und das Hamburger Abendblatt erst die zweite Zeitung, die sie mehr als einmal gewinnt. Überhaupt ist ausgerechnet unser Geburtstagsjahr das Jahr der großen Ehrungen – unter anderem haben wir den Theodor-Wolff-Preis für die beste Lokalreportage, den Medienpreis des Deutschen Bundestages für herausragende politische Berichterstattung sowie zwölf Auszeichnungen beim European Newspaper Award erhalten.

Schönere Geschenke kann es für eine Redaktion zum Geburtstag nicht geben, sie sind für uns Bestätigung und Verpflichtung zugleich.

Ja, es stimmt, auch nach 65 Jahren: Das Hamburger Abendblatt ist keine Zeitung wie jede andere. Und wird es auch nie werden, versprochen.

Bleiben Sie uns gewogen!

Herzliche Grüße und vielen, vielen Dank,

Ihr