Über Jahrzehnte war Peter Tamm die rechte Hand des Verlegers Axel Springer und Gründungsmitglied des Hamburger Abendblatts. Im Interview erinnert er sich daran, wie alles begann.

Prof. Peter Tamm ist der letzte Überlebende der ersten Stunde. In der ersten Ausgabe des Hamburger Abendblatts veröffentlichte der heute 85-Jährige einen Text über eine Serie von Fischdampfern, die ersten Neubauten nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland. Lange Zeit arbeitete er als Schifffahrtsredakteur für diese Zeitung, bevor er im Verlag Karriere machte. Als Geschäftsführer sanierte er den Ullstein-Verlag und wurde schließlich für mehrere Jahrzehnte Vorstandsvorsitzender der Axel Springer AG. Nach seinem Ausscheiden 1991 konzentrierte er sich auf seine umfangreiche Sammlung zur Schifffahrts- und Marinegeschichte, die er 2008 im Internationalen Maritimen Museum der Öffentlichkeit erschloss.

Hamburger Abendblatt: Herr Tamm, wie kam es zu Ihrem ersten Kontakt mit dem Abendblatt?

Peter Tamm: Nach dem Krieg haben wir mehr gehungert als im Krieg. Ich wollte studieren, aber das kostete. Nach der Währungsreform hatten wir alle nur 20 Mark. Ich habe überlegt, woher ich das Geld bekomme, um mein Studium zu finanzieren. Dann sah ich an allen Anschlagsäulen große Plakate, dass ein junger Verleger aus Altona namens Axel Springer eine neue Zeitung herausgeben wollte. Und da hatte ich eine Idee, die einzige in meinem Leben, aber die hat gereicht. Mensch, dem könntest du doch eine Serie anbieten über den Verbleib und das Schicksal der Hamburger Passagierschiffe. Ich hatte ja alles gesammelt, von Kindesbeinen an. Ich dachte, die neue Zeitung, keine Parteizeitung, unabhängig und überparteilich, müsste das doch interessieren.

Sie hatten damit Erfolg.

Ja. Die Hamburger haben ihre Passagierschiffe immer geliebt. Ich erinnere mich noch an das Tuten der Schiffe, das man in der ganzen Stadt hören konnte. Man pilgerte dorthin, wenn ein Schiff ankam. Ich weiß nicht, wie oft mich mein Vater in den Hafen geschleppt hat, um irgendwelche Schiffe anzugucken. Während des Krieges waren die Schiffe außer Sicht geraten, doch nach dem Krieg erwachte das Interesse am Hafen und an den Schiffen neu: Wo sind die eigentlich abgeblieben? Ich habe mich – noch bevor die allererste Ausgabe herauskam – im Abendblatt-Gebäude auf dem Hof hinter der alten Volksfürsorge an der Alster zu Otto Siemer, dem ersten stellvertretenden Chefredakteur, durchgefragt – ich wusste damals gar nicht, was ein Chefredakteur ist. Chefredakteur war Wilhelm Schulze, genannt Schulze-Tokio, weil er im Krieg für das deutsche Nachrichtenbüro in Tokio tätig war. Der Macher war allerdings Otto Siemer, ein genialer Chefredakteur, der mit seinen Leuten umgehen konnte. Er war unser aller Vater.

Und wie haben Sie ihn überzeugt?

Ich hatte zu Hause zehn Fotos rausgesucht und zu jedem Schiff zehn, 20 Zeilen geschrieben. Siemer hat sich das angeschaut, mir auf die Schulter gehauen und gesagt: Mensch Junge, prima! Was willst du denn haben? Damals war eine D-Mark so viel wie Gold wert. Ich habe gezögert. Wenn du zu viel forderst, schmeißt er dich raus; wenn du zu wenig sagst, hält er dich für einen Idioten. Wir haben uns geeinigt, und diese Serie ist dann ein Jahr gelaufen, letzte Seite unten links – Bild und Schicksal des Schiffes. Der erste Artikel handelte vom Bau von Fischdampfern, den ersten Neubauten nach dem Krieg. Ich kriege übrigens bis heute noch pausenlos Nachlässe angeboten, weil Leser das ausgeschnitten und gesammelt haben. Die Schifffahrt im Abendblatt ist immer wichtiger geworden. Bald gab es täglich dafür eine Viertelseite. Und später sogar eine richtige Schifffahrtszeitung vom Abendblatt. Das waren vier DIN-A4-Seiten, die über Norddeich Radio an deutsche Schiffe in der ganzen Welt gefunkt wurden. Selbst im Indischen Ozean, fern der Heimat, hatten die Seeleute ja Interesse an den heimischen Fußballergebnissen.

Wann haben Sie Axel Springer selbst das erste Mal getroffen?

1948, bei der Gründung des Abendblatts. Damals dachte ich, wenn du den Job ein Jahr machst, bist du aus dem Schneider mit deinem Studium. Daraus wurden dann 43 Jahre bei Springer. Das Studium hab ich übrigens nie zu Ende gebracht.

Wie war das Zusammentreffen eines Jungredakteurs mit dem Verleger?

Wir hatten jeden Morgen um 7 Uhr Redaktionskonferenz, die Zeitung erschien damals ja mittags. Axel Springer kam eigentlich immer und holte aus seinen Taschen die vielen Zettel, was ihm gefallen hat, was andere Zeitungen besser hatten. Das war eine ganz handfeste Kritik jeden Morgen. Da war was los. Da saßen wir alle und passten auf, ob wir einen abkriegten oder nicht. Springer war immer da, immer voller Vorschläge und Ideen. Das Abendblatt war für ihn ein Lebewesen. Ich habe damals unheimlich viel von ihm gelernt.

Woran hat man gemerkt, dass Springer sein Abendblatt besonders mochte?

Es war sein Kind – von der ersten bis zur letzten Zeile. Springer war ständig präsent, er war ja fast immer da, jeden Tag.

War er so etwas wie ein heimlicher Chefredakteur?

Er war Verleger und Redakteur. Wenn der damalige Chefredakteur sich nicht nach ihm gerichtet hätte, wäre das nicht gut gegangen. Chefredakteur und Verleger waren mehr oder weniger eine Einheit, meistens. Manchmal ging das schief. Bei Otto Siemer nicht, bei Werner Titzrath auch nicht. Die hatten das „Wir“ – das war die Geheimwaffe des Hamburger Abendblatts, dieses „wir Hamburger“, dieses „wir dienen den Menschen“. Da war zwischen Otto Siemer und Axel Springer eine absolute Einheit.

Das ging hinein bis in die Werbung...

Ja, der Spruch „Seid nett zueinander“. Heute lacht man drüber, damals nicht. Wir kamen aus dem Krieg, wir lebten in einer total zerstörten Stadt, und als ich in der Redaktion anfing als Jungredakteur, da hatte jeder sein Schicksal: Da waren U-Boot-Leute, Bombenflieger, Infanteristen, jeder Zweite hatte eine Verwundung. Alles, was der Krieg an Menschen ausgespuckt hat, fand sich da. Und vor uns stand Axel Springer, der uns eine Zukunft gab. Hamburg war ein Trümmerhaufen, auch da, wo heute der Verlag steht, da waren die Trümmer des Conventgartens.

Wie hoch war Ihr erstes Gehalt?

Erst mal wurde ich auf Honorarbasis bezahlt. Zeitweise habe ich den Schifffahrtsteil zu 100 Prozent bestückt. Ich hatte dann als einer der Ersten ein Auto, einen P4 von Opel. Das Kilometergeld hat mehr gebracht als das Honorar. Man hat mich dann in den Verlag geholt, weil ich in den Spesen und Kilometern zu teuer wurde. Ich habe mehr vom Auto gelebt als von den Texten.

Wie ging Axel Springer mit seinen Journalisten um?

Die Journalisten waren ihm wichtig und die ersten Leute im Verlag. Die Redaktion war seine Eliteeinheit. Die Redaktion, die Chefredakteure waren für ihn der eigentliche Kern des Hauses. Er wusste aber auch, er braucht genauso den Vertrieb, die Werbung, die Technik. Er kümmerte sich sehr um die neueste Technik, er hat die Umstellung auf den Offsetdruck vorangetrieben, das war das Haus Springer, das waren wir. Wir haben das Offset-Zeitalter für Zeitungen eingeläutet.

Wann hat er Sie zum ersten Mal wahrgenommen?

Bei der Gründung. Ich hatte gleichzeitig die Idee für eine Schifffahrtszeitschrift; davon schrieb ich ihm und bekam bald leider eine freundliche Absage. Danach habe ich Axel Springer jeden Morgen in der Redaktion gesehen. Er brachte über, was heute vielen Firmen fehlt. Axel Springer kannte jeden Mitarbeiter. Wir waren eine Riesenfamilie.

Es gibt eine Anekdote, dass er mal einen Redakteur nach London zu seinem Schneider geschickt hat, damit der einen ordentlichen Anzug bekommt.

Da würde ich mal davon ausgehen, dass er das vielfach gemacht hat. Springer war Ästhet und legte viel Wert auf Stil. Es war ihm wichtig, dass seine Mitarbeiter tadellos gekleidet waren. Er hat sich ja auch akribisch um das Aussehen seiner Blätter gekümmert – als Inneneinrichter wäre er sicher auch Weltmeister geworden. Alles, was er gebaut hat, auch seine Häuser und Wohnungen, war immer Weltspitze in Ästhetik.

In seinem Lizenzantrag hatte er geschrieben, er wolle eine Zeitung, deren Nachrichten die Menschen nahe angehen.

Springer hat sich immer in seine Leser hineinversetzt und gefragt, was der Leser wissen will, was für ihn wichtig ist und ihm nützt. So kam er auf das „unabhängig, überparteilich“ und auf die Bedeutung des Wir-Gefühls. Das Abendblatt war das, was er sein Leben lang wollte, was er gefühlt hat, er lebte in jeder Überschrift. Er hatte das Konzept wohl schon seit seiner Jugendzeit im Kopf. Die Genialität Axel Springers war es, den Spruch von Gorch Fock zum Abendblatt-Leitspruch zu machen: „Mit der Heimat im Herzen die Welt umfassen“. Es gibt keinen besseren Satz für eine Lokalzeitung. Und – noch wichtiger – das „unabhängig, überparteilich“, denn 1948 gab es nur Parteizeitungen. Und die Leute haben gemerkt: Partei heißt unterschwellig immer: einseitig. Wichtig ist das Wort „Wir“. Und das galt 1948 im Hause Springer ganz primär. Das ist mir bis heute wichtig, auch in meinem Museum, das Geschichte bewahren will.

Bei der Gründung haben nur wenige an den Erfolg des Abendblatts geglaubt.

Ein Anzeigenchef der „Morgenpost“ sagte mal zu einem, der zum Abendblatt ging: „Bleib da bloß weg, die sind in 14 Tagen pleite.“ Ein Jahr später haben wir den bei uns eingestellt.

Sie sind Verlagsmanager, der aus dem Journalismus kommt. Haben Sie manchmal bedauert, nicht länger Schifffahrtsredakteur geblieben zu sein?

Ja. Das hat sich bis heute gehalten. Es ist ja eine Menge los in der Schifffahrt, und jeder zweite Hamburger hat irgendwie mit dem Hafen zu tun. Heute ist das Museum für mich ein guter Ersatz.

Sie haben Springer bei vielen verlegerischen Entscheidungen erlebt, was war ihm wichtiger: der Inhalt oder das Geld?

Er hat immer gesagt: Ich liebe das Geld, weil es mir Freiheit bringt.

Was bedeutete Axel Springer für Sie persönlich?

Ich habe in meinem Leben zwei große Glücksfälle erlebt: Erstens, dass ich den Krieg mit heilen Knochen überstanden habe, und zweitens, dass ich einen Mann wie Axel Springer getroffen habe. Ihm habe ich alles zu verdanken. Auch dieses Museum hier, auch wenn er mich da für verrückt erklärt hat. Er hat mich nach Berlin zu Ullstein geschickt, nachdem er den Verlag gekauft hatte. Und da hat meine Karriere begonnen.

Das Abendblatt warb einmal damit, mehr als eine Zeitung zu sein. Was machte dieses „Mehr“ aus?

Anfangs das „Seid nett zueinander“. Die Erfindung des Zebrastreifens, Hunderttausende Maiglöckchen-Sträuße für die Frauen, die Nikolaus-Stiefel, die wir in der Stadt versteckt haben. Die weiße Hochzeitskutsche, die Seifenkistenrennen für die Kinder… Oder Herr Lombard, das waren lauter Sachen für die Menschen, fürs Wir-Gefühl in einer Stadt, die in Trümmern lag.

So wurde das Abendblatt eine Art Familienmitglied…

… und vor allem für die Frauen da. Früher haben Frauen die Zeitungen fast gar nicht interessiert, beim Abendblatt waren sie die Ersten, die es lasen. Und die Mehrheit unter den Lesern.

Im Grunde seines Herzens war Axel Springer also Abendblatt-Redakteur.

Ja. Er war der „Erste“ Redakteur des Hauses. Und der erste Ideengeber des Hauses. Er kam jeden Tag mit neuen Einfällen fürs Abendblatt. Auch für den Vertrieb und für die Werbung.

65 Jahre Abendblatt – wie viele Ausgaben haben Sie nicht gelesen?

Ich hab sie alle gelesen, das Hamburger Abendblatt ist für mich Bestandteil meines Lebens.

Was mögen Sie besonders?

Alles, was über das Museum drinsteht, über das größte und einzige internationale Schifffahrtsmuseum der Welt.

Erinnern Sie noch eine besondere Anekdote aus der Anfangszeit?

Ja. Bis zur Druckmatrize, der Mater, produzierten wir alles an der Alster, gedruckt wurde dann bei Broschek an den Großen Bleichen. Wenn wir fertig waren, rief einer „Mater“, die Türen flogen auf, und der Bote sauste los zur Druckerei. Das musste schnell gehen, jede Minute kostete ja Auflage. Eines Tages kriegten sich die Boten in die Haare, und da ist einer in den Keller gegangen, hat die Mater der aktuellen Seite zwei gegen die des vergangenen Jahres ausgetauscht und das Zauberwort „Mater“ gebrüllt. Und davon wurden 100.000 Exemplare gedruckt, bis es bemerkt wurde. Und wissen Sie was? Es gab nur drei Leserbeschwerden, weil es eine Politikseite war.

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