Nach Ermittlungspannen bei der NSU-Mordserie ist vor allem eine deutsche Sicherheitsinstitution in der Kritik: die sogenannte Vertrauensperson. Geheime Spitzel, die gegen Geld für den Verfassungsschutz die Neonazi- und Islamistenszene ausspionieren. Zu Besuch bei Hamburgs oberstem V-Mann-Führer

Thomas S. sitzt in seinem Büro am Johanniswall und gießt sich einen Kaffee ein. „New York Office“, steht auf dem Becher, darüber ein Logo des Federal Bureau of Investigation, FBI, der amerikanischen Bundespolizei. S. hat den Becher von einem Besuch in den USA mitgebracht. Ein Becher seiner amerikanischen Kollegen. Seit 17 Jahren arbeitet Thomas S. beim Hamburger Verfassungsschutz, früher hat er selbst V-Leute angeworben und betreut, vor allem in der islamistischen Szene. Seit drei Jahren leitet er die Abteilung. Thomas S. ist Hamburgs oberster V-Leute-Führer.

S. vollständiger Name darf nicht bekannt werden, nur seine Familie und enge Freunde wissen, für wen er arbeitet. Nicht nur die Identitäten seiner V-Leute sind Dienstgeheimnis, auch seine eigene wird mit Tarnausweisen gedeckt, es gibt keine Einträge bei Suchmaschinen im Internet mit seinem Namen und seinem Arbeitgeber, der Behörde. Mehr als zwei Stunden spricht Thomas S. mit dem Hamburger Abendblatt über die Anwerbung von sogenannten Vertrauenspersonen im extremistischen Milieu, deren Betreuung und die Auswertung ihrer Informationen. Am Ende wird die Leitung des Landesamtes seine Zitate autorisieren und einzelne Details über das System der V-Leute streichen, vor allem zum Schutz der Geheimdienst-Strategie, wie sie sagt. Über Anzahl der V-Leute, deren Bezahlung und konkrete Fälle könne man nichts öffentlich sagen, stellte die Behörde vor dem Gespräch klar. „Mir ist es vor allem wichtig, das Thema V-Leute aus der Schmuddelecke rauszuholen“, sagt S. Es sei nicht so, dass der Verfassungsschutz im rechtsfreien Raum agiere. Es gibt klare Dienstvorschriften. Auch die sind nicht öffentlich.

Der Inlandsnachrichtendienst steckt in einer Krise, vielleicht die schwerste seit seiner Gründung 1963. Als Ende 2011 bekannt wurde, dass die rechtsterroristische Zwickauer Zelle um Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, mutmaßlich verantwortlich war für zehn Morde, wurden auch Fehler, Pannen und Verstrickungen des Verfassungsschutzes bekannt. Dass die Polizei über Jahre mit teilweise falschen Verdächtigungen ebenso im Trüben fischte, blieb in der Debatte über die Sicherheitsbehörden fast unbeachtet. Vor allem um eines drehte sich die Diskussion: Welche Erkenntnisse liefern V-Leute? Schützen sie uns vor Extremisten? Oder schaden die Geheimen sogar der Sicherheit?

Thomas S. sagt: „Wir brauchen V-Leute für unsere Arbeit.“ Manche Informationen von Neonazi-Gruppen oder radikalen Islamisten würden sich nicht im Internet oder mithilfe von verdeckten Ermittlern sammeln lassen. Jetzt, wo alle über den „Nationalsozialistischen Untergrund“ und die Pannen der Behörden reden, seien auch einige ihrer V-Leute in Hamburg verunsichert gewesen, erzählt S. Sie haben gefragt, ob „ihre Daten noch geschützt sind oder ihr Job bei uns gefährdet sein könnte“.

Vor allem ein Name taucht in der Debatte um die V-Leute seit 2011 immer wieder auf: Tino Brandt, Deckname „Otto“. Brandt gründete den „Thüringer Heimatschutz“, in der auch das Neonazi-Trio aktiv war. Und Brandt arbeitete als Spitzel für den Verfassungsschutz. Bis zu seiner Enttarnung 2001 erhielt er über Jahre Geld der Behörden, insgesamt sollen es 200.000 Mark gewesen sein. Er war unter anderem verantwortlich für die Internetseite von Hamburger Neonazi-Anwälten. Und: Der NSU soll von Brandts Geld profitiert haben. Der frühere NPD-Spitzenfunktionär und V-Mann Wolfgang Frenz sagte 2012 in einem Interview: „Der Verfassungsschutz war eine Institution, um Geld zu bekommen.“ Für ihn und die Neonazi-Partei. Zwei Beispiele, die bereits einige Zeit zurückliegen. Es sind Extremfälle. Aber es sind nicht die einzigen Fälle.

Verfassungsschützer Thomas S. redet nicht über Honorare. Er sagt nur: „Reich wird davon niemand.“ Typischerweise gebe es monatliche Zahlungen an V-Leute. Jede Zahlung werde quittiert. Einen Arbeitsvertrag zwischen Behörde und V-Person gebe es nicht. „Wichtig ist: Es darf nicht nur Geld für spektakuläre Neuigkeiten geben, sonst besteht die Gefahr, dass manche V-Leute immer dramatischere Geschichten erfinden.“ Auch dass eine radikale Gruppe nichts plane, sei eine Information. Und wird honoriert.

In den letzten Jahren ist das Budget des Landesamtes für Honorare an V-Leute etwa gleich geblieben. Genauso wie die Zahl der V-Leute, sagt S. Konkrete Angaben macht die Behörde nicht. Der Etat lag 2012 bei mehr als zwölf Millionen Euro, im Amt arbeiten etwa 150 Mitarbeiter. Auch auf den Konten der V-Personen dürfe es keine Hinweise auf Überweisungen von den Behörden geben. „Manchmal prüft die Szene auch die Bankkonten ihrer Mitglieder, um V-Leute zu enttarnen“, sagt S. Wer ungewöhnlich viel Geld auf dem Konto hat, ist in der Szene verdächtig. An seinem Handgelenk trägt S. ein Band vom Triathlon. Er hat eine sportliche Figur, kurze Haare und eine Brille mit dickem Rand. Er spricht ruhig, erzählt von seiner Arbeit, wie es auch ein Mathelehrer oder ein Handwerker machen würde. Nur zu manchen Fragen sagt er: „Sie wissen doch, dass ich Ihnen dazu nichts sagen darf.“ Die Behörde zeigt sich offen für ein Gespräch, sie erzählt ihre Sichtweise von der Arbeit mit V-Leuten. Doch auch nach dem Interview bleiben weiße Flecken. Und die Frage: Wann haben Informationen von V-Leuten Übergriffe oder Anschläge verhindert? Der Verfassungsschutz selbst ist gefangen im System des Geheimen: V-Leute-Führer wie Thomas S. können nicht auf einer Pressekonferenz präsentieren, wie ihr V-Mann der Szene die entscheidenden Tipps entlockte. Die Quelle würde von den Extremisten sofort enttarnt. Verbrannt.

Manche, wie die Grünen und der linke Bremer Anwalt und Publizist Rolf Gössner, fordern die Abschaffung der V-Leute. Die andere Seite, wie der Sicherheitsexperte Arne Schönbohm, sagt: Gute Geheimdienstarbeit geht nur mit V-Leuten. Alle sagen: Den Fehlern in der NSU-Mordserie müssen Konsequenzen folgen. Auch Verfassungsschutz und Innenminister sagen das. In einer Beschlussniederschrift vom Dezember 2012, die dem Abendblatt vorliegt, heißt es: „Der Einsatz und die Führung von VP ist einer engen Kontrolle und einem standardisierten Qualitätsmanagement zu unterziehen.“ Bundesweit sollen künftig Honorare nach gleichen Prinzipien vergeben werden, die Führung einer V-Person alle fünf Jahre ausgetauscht werden, damit sich die Bindungen nicht zu sehr festigen.

Auch V-Leute mit „erheblichen Straftaten“ würden nicht angeheuert. Hamburgs Verfassungsschutzchef Manfred Murck leitet den Arbeitskreis der Innenministerkonferenz, der bundesweite Standards in den Länderbehörden festlegen soll. In Hamburg wechsele die Betreuung einer V-Person sogar jedes halbe Jahr, sagt S. Sowieso würden die Kriterien der IMK beim Hamburger Landesamt längst gelten. Dennoch protokolliere man seit den Pannen in der NSU-Mordserie Treffen mit V-Leuten noch detaillierter, die Betreuung sei intensiviert worden.

Bevor ein Islamist oder Neonazi für den Staat arbeitet, kennt ihn der Verfassungsschutz schon länger. Die Behörde beobachtet die Person, wählt sie gezielt aus, erklärt S. „Wie oft trifft sie die Gruppe? Welche Rolle spielt sie in der Szene? In welchem sozialen Umfeld lebt die Person?“ Und die Verfassungsschützer setzen auf den „Typ des Zweiflers“. Menschen, die sich einer extremistischen Szene zwar aus ideologischen Gründen angeschlossen haben, aber dann feststellten, dass Gewalt die Gruppe dominiere und die Ziele menschenverachtend seien, sagt S. Wird ein Extremist angeworben, rechnet die Behörde mit Absagen. Der Verfassungsschutz spricht vom „Verratskomplex“: Die Gruppe an den Staat verraten, und damit die eigene Ideologie, die sich oft selbst gegen den Staat richtet – für viele ist das ein Dilemma. Extremisten haben die Gefahr durch V-Leute für die eigene Szene erkannt. Im Internet finden sich „Sicherheitshinweise für Nationalisten“, in denen vor „Anquatschversuchen“ durch Beamte gewarnt wird: „Meist wirst Du in einer scheinbar x-beliebigen Situation auf der Straße angesprochen, aber auch Hausbesuche und seltener Telefonanrufe oder Briefe gehören zu ihrem Programm. Die Gesprächsstrategie ähnelt dabei der Verhörtaktik der Bullen.“

Bei einer Neonazi-Gruppe in Niedersachsen soll der Verfassungsschutz nach Informationen des Abendblatts vor Kurzem versucht haben, zwei Männer anzuwerben. Einmal hätten die Beamten „an der Haustür eines Kameraden“ geklingelt, ein anderes Mal hätten sie einen „jungen Kameraden vor der Schule“ angesprochen. Immer sind es zwei Beamte gewesen, nie einer alleine.

In der Szene rufen die Anwerbeversuche vor allem Misstrauen innerhalb der eigenen Reihen hervor. Dafür müssen die Verfassungsschützer nicht einmal erfolgreich sein – auch der Versuch erhöht die Verunsicherung.

Dass die braune Szene die V-Leute als Bedrohung ernst nimmt, zeigt auch eine 32 Seiten lange Broschüre der NPD, die dem Abendblatt vorliegt. Darin heißt es: „Waren früher meist junge, unerfahrene oder sich am Rande der ‚Szene‘ bewegende Kameraden Ziel solcher Anwerbeversuche, so scheinen nun gerade auch ältere, also erfahrene und langjährige Aktivisten Ziel der Ausspähung und der Anwerbung zu sein.“ Typisch seien Versuche wie dieser: „Wir wissen, dass es Ihnen beruflich nicht gut geht und sind deshalb bereit, Sie finanziell zu unterstützen.“ Auch die NPD weiß nach eigener Auskunft nicht genau, wie viele V-Leute in den eigenen Reihen für den Staat arbeiten. Sicher ist nur: 2003 scheiterte ein Verbot der Partei, als klar wurde, dass die Verfassungswidrigkeit der NPD wesentlich mit Zitaten von V-Leuten begründet worden war – also durch Mitarbeiter des Staates. Nach der NSU-Mordserie sprachen sich die Innenminister der Länder erneut für ein Verbot der NPD aus – alle V-Leute aus der Führung der Partei seien dafür abgezogen worden, heißt es.

Der Leiter der V-Leute-Führer in Hamburg, Thomas S., sagt: Werde eine V-Person enttarnt, könne das gefährlich werden. „Wir können in bestimmten Einsatzbereichen zumindest nicht ausschließen, dass sogar das Leben einer V-Person gefährdet sein könnte.“ Fälle sind bekannt geworden wie die Enttarnung eines Spitzels in einer „antiimperialistischen“ Gruppe in Frankfurt. Die Gruppe fesselte den V-Mann, bedrohte ihn mit dem Tod, wie der „Spiegel“ berichtete. Für Geheimdienste sind zwei Quellen in einer Gruppe also ein Vorteil: Falls eine V-Person auffliegt – und um den Wahrheitsgehalt der einen Quelle mit den Informationen der anderen zu prüfen. Wer beim Verfassungsschutz V-Leute betreut, erhalte mindestens einmal im Jahr eine Fortbildung, eine psychologische Schulung, interkulturelles Training oder Tipps für die Kommunikation, sagt Thomas S. Ab und an seien auch private Sorgen Thema bei den geheimen Treffen, seien es Jobprobleme, Geldnöte oder Beziehungsstress der V-Person.

Dennoch versuche der Verfassungsschützer ein „professionelles Verhältnis“ zu den V-Leuten aufzubauen. Bei akuten Gefahrenlagen treffen die Beamten einen Spitzel mehrfach in der Woche, manchmal auch nur alle zwei Monate. Einmal im Jahr bespricht S. die observierten Gruppen und die einzelnen V-Leute mit Kollegen aus dem Bundesamt. Klarnamen werden gegenüber dem Bundesamt nicht genannt.

Der Verfassungsschutz beobachtet seine V-Leute, er betreut und honoriert sie, nutzt ihre Informationen, erstellt Berichte aus eben diesen Erkenntnissen, gibt der Polizei Hinweise auf Straftaten. Schützt der Verfassungsschutz seine V-Leute auch vor anderen Sicherheitsbehörden? Ein als geheim eingestuftes Positionspapier des Bundeskriminalamts von 1997 berichtet in zehn Thesen darüber, wie Spitzel des Verfassungsschutzes in führenden Aktionen von extremistischen Gruppen mitwirken und mit technischen und finanziellen Mitteln durch den Verfassungsschutz ausgestattet würden. Das BKA beklagt, dass der Verfassungsschutz seine V-Leute vor anstehenden Maßnahmen der Polizei warne und so die Quellen schütze. Es bestehe die Gefahr, dass Beweismittel beseitigt würden, bevor die Polizei eintreffe. Das BKA listet viele konkrete Beispiele zu den Vorwürfen auf, aus Thüringen, dem Saarland oder Nordrhein-Westfalen. Aus Hamburg findet sich kein Fall. Die Vorwürfe des BKA liegen Jahre zurück. Sowohl Geheimdienstler als auch Sicherheitsexperten wie Schönbohm sagen, dass heute andere Standards gelten.

Im Idealfall arbeiten Polizei und Verfassungsschutz Hand in Hand. Die Polizei ermittelt und führt Razzien durch. Der Verfassungsschutz hat nicht die Aufgabe, Straftaten zu verfolgen. Er erstellt Lageberichte, macht Drahtzieher und Strukturen von radikalen Gruppen ausfindig. Doch im Fall des NSU kam es mit den V-Leuten immer wieder zu Konflikten zwischen Polizei und Amt. Im Untersuchungsbericht des Bundestags zur Mordserie heißt es bilanzierend: „Aufwand und Ertrag des Einsatzes von V-Personen zur Aufklärung einer von Rechtsterrorismus ausgehenden Gefahr standen nach Auffassung des Untersuchungsausschusses in keinem Verhältnis.“