Das Lesen ist die wohl wichtigste Kulturtechnik. Wer nicht lesen kann, hat trotz aller audiovisuellen Medien kaum eine Chance, tiefer gehend am kulturellen, am wissenschaftlichen, am politischen Leben teilzunehmen. Dabei hat sich der Vorgang des Lesens über Jahrtausende hinweg kaum verändert. Ob lateinische, arabische, chinesische oder kyrillische Schriftzeichen, ob von links nach rechts oder von rechts nach links: Gelesen wird immer auf die gleiche Art und Weise. Wörter werden nacheinander wahrgenommen und im Gehirn zu Sinneinheiten verknüpft. Die Geschwindigkeit, mit der jemand einen Text auf Papier oder digital liest, variiert dabei je nach Übung und Interesse, liegt aber – außer bei Schnelllesern, die sich spezielle Techniken in teils jahrelanger Arbeit angeeignet haben – selten bei mehr als 240 Wörtern pro Minute.
„Das liegt aber nicht an der Kapazität zur Informationsaufnahme“, sagt Maik Maurer, einer der Gründer von Spritz Technology Incorporated. Sondern daran, dass wir beim Lesen unsere Augen stets neu fokussieren müssten, wenn sie an einem Text entlangwandern. Dieses Problem will die Software mit dem etwas merkwürdig klingenden Namen Spritz lösen. Es ist ein unscheinbares kleines Fensterchen, die Entwickler nennen es Redicle, in dem die große Neuerung stattfindet: Statt der Augen bewegen sich die Wörter. Und das mit einer Geschwindigkeit von mindestens 250 Wörtern in der Minute. Nur kurz blinken sie nacheinander auf, immer streng zentriert auf den Punkt, den ein Algorithmus als optimal zur Erkennung des Wortes berechnet hat. Das sieht einfach aus, dahinter steckt aber eine Menge Arbeit.
Maurer, der auch am Lehrstuhl für Produktentwicklung der TU München arbeitet, erklärt, dass er und seine Mitstreiter die vergangenen drei Jahre im Geheimen gewerkelt hätten, kein Produkt vorstellen wollten, das noch nicht so funktioniert, wie sie es sich vorstellten. Am Anfang stand die Analyse des Leseprozesses und die Überlegung, dass man diesen für die digitale Welt neu erfinden könnte: „Der dicke Brocken war die Augenbewegung.“ Diesem haben sie sich intensiv gewidmet, getestet, und verfeinert. Auf dem Mobile World Congress in Barcelona konnten Besucher im Februar erstmals auf einer Smartwatch und einem Smartphone ausprobieren, wie das Lesen mit Spritz funktioniert. Und seitdem hat sich für das Start-up mit Sitz in Boston einiges verändert. „Wir waren selbst überrascht vom großen Interesse an Spritz“, so Maurer. Mehr als 1000 Anfragen – vom einzelnen Programmierer bis zu global operierenden Firmen – hätte es seitdem gegeben.
Für Gebrauchstexte wie Kurzmitteilungen, Nachrichten und E-Mails könnte Spritz tatsächlich eine Revolution darstellen. Nicht nur, dass Anwender von der Geschwindigkeit profitieren, mit der Alltagskorrespondenzen und Ähnliches abgerufen werden, auch für die Entwickler von Soft- und Hardware hat Spritz klare Vorteile. Smartphones sind in den vergangenen Jahren immer größer geworden, Bildschirmdiagonalen von 13 Zentimetern und mehr sind keine Seltenheit mehr, sondern fast die Regel. Wenn der Text nur noch einen Bruchteil dieses Platzes einnimmt, bleibt mehr Platz für Illustrationen, Grafiken, Fotos – oder für Werbung. Gleichzeitig entsteht ein weiterer Markt, der der sogenannten wearables, der technologischen Gadgets, die nicht mehr nur mitgenommen werden, sondern Teil unserer Kleidung, unserer Accessoires werden sollen. Die Datenbrille Google Glass, die immer zahlreicher werdenden Smartwatches, Erweiterungen des Smartphones, die Benachrichtigungen und anderes an das Handgelenk weiterleiten, sie bieten deutlich begrenzteren Raum als Telefone und Tablets. Und werden damit zum idealen Anwendungsraum für das Spritz-Redicle. Mit einem Blick auf die schlaue Uhr die E-Mail, die Eilmeldung oder eine Nachricht des besten Freundes lesen: Das könnte zur echten Alltagserleichterung werden. Bis zu 150-mal am Tag nehmen Nutzer ihr Smartphone in die Hand, diese Zahl haben Maurer und seine Kollegen fest im Blick.
Fest im Blick muss man auch das Redicle behalten, will man dem rasanten Fluss der Wörter folgen. Aber wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, ist man zu erstaunlichen Leistungen fähig. 500 Wörter pro Minute sind nach kurzer Eingewöhnungszeit kein Problem. Und das Erstaunliche: Man nimmt die Wörter nicht nur wahr, sondern auch auf, man versteht, was man liest. Tatsächlich würden beim Lesen mit Spritz die einzelnen Wörter länger fokussiert als bei der althergebrachten Art und Weise, so Maurer.
Lesen wir also künftig alles über das Redicle? Dafür sei Spritz nicht gedacht, sagt Maurer: „Thomas Mann würde ich so nicht lesen wollen.“ Auch komplexe Sach- und Fachtexte lassen sich besser auf die althergebrachte Weise aufnehmen. Wohin sich Spritz in Zukunft entwickeln wird, das kann auch Maurer nicht beantworten: „Wir stellen nur das grundlegende Programm zur Verfügung. Was Entwickler daraus machen, darauf sind auch wir gespannt.“
Spritz zum Ausprobieren: www.spritzinc.com
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