Neue Idee: Beim ersten Opern-Casting der deutsch-französischen Fernsehgeschichte werden auf Arte vier Sänger für die Oper “Carmen“ ermittelt.

Ihr großer Tag ist nicht die Premiere, es ist der Tag danach. Das ist vielleicht ein Wermutstropfen für die Mezzosopranistin Erica Brookhyser, den Tenor Christian Schleicher, die lyrische Sopranistin Anna Pisareva und den Bariton Michael Bachtadze. Denn sie haben sich zwar im ersten Opern-Casting der deutsch-französischen Fernsehgeschichte "Open Opera - wer wird Carmen?" des Senders Arte gegen eine starke internationale Konkurrenz durchgesetzt. Die Premiere der Oper "Carmen" unter der Regie des Kino-Altmeisters Volker Schlöndorff auf der Seebühne Berlin am 16. August aber singen andere. Die vier Gewinner des Wettbewerbs sind erst am nächsten Abend dran, wenn das Gros der Kritiker schon wieder andere Termine im Kalender stehen hat.

Die Idee war naheliegend, aber doch fast so etwas wie ein Sakrileg. Warum den so beliebten öffentlichen Sängerwettstreit dem tiefen Tal des Bohlenwesens überlassen? Ist die Veranstaltungsform an sich nicht schon seit dem "Tannhäuser" überliefert, wo die Besten der Zunft sich einst auf der Wartburg maßen, wenn auch damals noch ohne Kameras? Und gehört die Frage, wer (welche Rolle) am besten singen kann, nicht sowieso zum Kerngeschäft und also zur Kernkompetenz der Strippenzieher eines Opernhauses?

Natürlich lässt sich ein Fernsehformat wie "DSDS" oder "American Idol" nicht eins zu eins auf die Opernwelt übertragen, vor allem dann nicht, wenn die Premiere der Oper, für die Sängerdarsteller gesucht werden, schon vier Tage nach der Ausstrahlung stattfindet. Wenn jetzt am Sonntagnachmittag die ersten beiden Folgen von "Open Opera" laufen, dann sind die Sieger längst gefunden.

Die sechs halbstündigen Sendungen (die nächsten Doppelfolgen laufen an den kommenden Sonntagen) wurden im Mai 2012 aufgezeichnet und anschließend ziemlich klug geschnitten. Insofern ist das Arte-Versprechen, "das Fernsehpublikum kann dabei sein und mitfiebern", ebenso richtig wie falsch. Da die Entscheidung schon vor Wochen gefallen ist, kann das Publikum schwerlich auf sie Einfluss nehmen.

Erhöhte Begeisterungstemperatur vermag "Open Opera" dennoch auszulösen, denn die kleine Serie ist ein Glücksfall von einer Fernsehshow. Das liegt zum einen an der beeindruckenden Qualität der 31 Sänger aus 27 Nationen, die es unter über 300 Bewerbern um die vier Hauptrollen der "Carmen" in die Endauswahl geschafft hatten. Vor allem aber ist es die Jury, die den wohltuend weiten Abstand zu den üblichen Castingshows markiert.

Die französische Sopranistin Annick Massis, der amerikanische Tenor und Sängercoach David Lee Brewer und der Bass-Bariton Franz Hawlata hören den Kandidaten nicht nur mit jenem Maß an Empathie, Praxiskennerschaft und Musikalität zu, das der Bühnenkünstler dem Kunstrichter immer voraushaben wird. Sie geben den jungen Sängern sofort nach dem Vorsingen im Berliner Radialsystem ein derart differenziertes und erhellendes Feedback, dass sich die Teilnahme am Wettbewerb auch für die 27 Finalisten gelohnt haben wird, die nun leider nicht auf der Bühne am Wannsee vor 4000 Leuten am Abend die "Carmen" singen werden. In den ersten beiden Folgen müssen sich die Kandidaten mit einer Arie ihrer Wahl vorstellen - alles, bloß nichts aus "Carmen".

Die Damen und Herren präsentieren sich in ihren vermeintlichen Paraderollen - und wissen hinterher meist sehr genau, auf welchem Niveau sie abgeliefert haben. "Es gibt gutes Vorsingen und schlechtes. Das eben war ein nicht so gutes", sagt ein Teilnehmer nüchtern und begibt sich gedanklich schon auf die Heimreise. Juror Hawlata beklagt das Dilemma, in ein paar Minuten beurteilen zu müssen, was eine oder einer stimmlich und von der Persönlichkeit her draufhat.

Denn es geht ja nicht nur um die Qualität des "Materials", wie Sängerpädagogen gern die Stimme und ihr Potenzial nennen. "Die Stimme ist wunderschön, aber sie kommt vom Barock, ist fein ziseliert", sagt Brewer etwa über eine Bewerberin für die Rolle der Micaela. "Und da ist manchmal ordentlich viel Orchester unter der Micaela. Wird sie sich da behaupten können?"

Das Team um den Regisseur Herbert Bayer spielt eher augenzwinkernd mit den Stereotypen des Casting-Genres - bibbernde Sänger unmittelbar vor ihrem Auftritt, Adrenalin und Endorphin verströmende Sänger, die nach aufmunternden bis enthusiastischen Jury-Worten aus der Schwingtür treten, hinter der sie soeben reüssierten, das Stimmungsgemisch aus Warten, Müdigkeit, Anstrengung, Spannung, Rivalität und gegenseitigen Sympathien, das die Teilnehmer am ersten Tag des Wettbewerbs im Gruppenraum fabrizieren. Aber die Arte-Leute nehmen die Kandidaten ernst, die Serie spielt unter erwachsenen Leuten.

Und man staunt als Zuschauer, aus welchen Lebensbereichen des Menschen sich diese Triebkraft des Singenwollens, Singenmüssens auf der Opernbühne so alles Bahn bricht. Da ist der fertig studierte Jurist Christian Schleicher aus Berlin, der nun den Don José singen wird. Da ist die Kunsthistorikerin Iwona Sakowicz aus Wien mit einem Faible für Metallica, der eine Freundin sagt, sie gehöre auf die Opernbühne und nicht ins Museum oder ins Archiv, und die sich daraufhin nach und nach Repertoire erobert wie Neuland.

Und da ist die weißrussische Sopranistin Anna Pisareva, von der der Juror Brewer nach dem Vorsingen sagt: "Sie hat eine verdammt schwere Arie aus 'La Traviata' gesungen, sie hat sie zu schnell genommen, da war vieles falsch - aber wir haben Ohren. Und unsere Ohren haben uns gesagt: Dieses Mädchen ist es wert." Es werden nicht nur die Ohren gewesen sein. Denn alle drei Juroren sind sich einig über das eigentliche Erfolgsgeheimnis ihrer Kunst: Was aus guten Sängern gute Opernsänger macht, ist die Lebendigkeit ihrer Augen.

"Open Opera" Sonntag, 12. August, 16.45 Uhr und 17.15 Uhr, Arte