“Ich brauche gar nichts, ich möchte nur geben“: Eine Würdigung des Jazzpreis-Gewinners 2011und Bigband-Pianisten Vladislav Sendecki.

Hamburg. Unten am Klingelschild steht der Name falsch. Sendetzki statt Sendecki. Zehn Jahre wohnt er jetzt hier, in diesem Gelbklinkerhaus mit der formidablen Aussicht auf die Alster, doch nie hat Herr Sendecki das Bedürfnis verspürt, diesen Fehler zu verbessern. Auch, ob man seinen Vornamen Vladyslav schreibt oder, noch weniger polnisch, Vladislav, ist ihm gleich, und irgendwie versteht man, warum: Wer diesen Herzmenschen mit dem wallenden dunkelblonden Madonnahaar einmal gesehen hat, der wird ihn ohnehin nicht mehr vergessen.

Vladislav Sendecki bekommt an diesem Sonntag den mit 10 000 Euro dotierten Hamburger Jazzpreis überreicht, der seit 2007 alle zwei Jahre von der Dr.-E.-A.-Langer-Stiftung vergeben wird. Seine Vorgänger waren Gabriel Coburger und Ulita Knaus, zwei in der kleinen Hamburger Jazzwelt bestens vernetzte Improvisationskünstler der freien Szene. Vladislav Sendecki, 1955 in Gorlice in Polen geboren und aufgewachsen in Krakau, ist dagegen das, was man vor 30 Jahren noch naserümpfend "Beamtenjazzer" genannt hätte. Als Pianist der NDR Bigband ist er Angestellter einer Anstalt öffentlichen Rechts.

Das Plätzchen im halbwegs Trockenen aber hat seinen schöpferisch unruhigen Geist keineswegs sediert, im Gegenteil: Er ist ein in hohem Maße originärer und individueller Künstler geblieben. Ihn beschäftigt, was Klänge bedeuten, und wenn sie Magie haben, dann hört er zu. Pianistische Grenzen scheinen ihm fremd. "Die Finger müssen machen, was die Birne will, darüber denke ich nicht nach." Sendecki steht als Instrumentalist so über den Dingen, dass er sich selbst in der Musik lebt. Er denkt mit dem Herzen, er fühlt mit dem Verstand, und manchmal kann er mit den Ohren in die Zukunft sehen.

Mancher Bigband-Musiker hält sich mit Band-Projekten außerhalb des Funkhauses schadlos an seinem komfortablen Los, drinnen allzeit Diener anderer Komponisten und Arrangeure sein zu müssen. Auch Vladislav Sendecki spielt gerne solo und mit Musikern jenseits des Heimathafens Rothenbaumchaussee. Aber in den mittlerweile 15 Jahren seiner Zugehörigkeit zur Bigband erfüllt er diesen Beruf mit immer noch wachsender Kreativität. "Ich versuche einfach, immer aus allem das Beste zu machen", sagt er. Freundlichkeit strahlt er aus. Mit Bedacht benutzt er das selten gewordene Wort Wohlwollen. Er will allen wohl. "Ich brauche gar nichts. Ich möchte nur geben."

Sendecki braucht diesen Hamburger Jazzpreis nicht zu seinem Glück. Zugleich erfasst er den Wert dieser Auszeichnung doch genau; sie ist die erste für ihn, seit er Polen verließ. Das war vor 30 Jahren. Jenseits der Obristenlegalität, mit falschem Pass, reiste der schon früh erfolgreiche Musiker 1981 der Frau und den Kindern in die Schweiz hinterher. "Ich war sehr privilegiert, aber ich habe es nicht mehr ausgehalten. Ich hatte nur die Wahl, entweder in den Wald zu gehen und gegen dieses widerwärtige System Bomben zu bauen oder abzuhauen."

Wenn Vladislav Sendecki jetzt den Hamburger Jazzpreis erhält, so ehrt die in Sachen Jazz rührigste Stiftung der Stadt einen wahrhaft großen Künstler und Humanisten. Im vergangenen Jahr hat Sendecki selbst eine Stiftung gegründet, die das polnische Kulturerbe vor dem rabiat schnellen Verschwinden durch die Segnungen des Kapitalismus schützen soll, der in seinem Herkunftsland mit Heißhunger über alles Gewachsene aus der Vergangenheit herfällt. Und es bekommt ein Musiker den Hamburger Jazzpreis, der nirgendwo lieber lebt als hier. "Hamburg ist mein Zuhause. This is my town. Wenn ich von irgendwo hierher zurückkomme und der Zug über die Elbbrücken rattert, dann stehe ich immer auf. Es hält mich dann nicht mehr auf dem Sitz."