Berlin. Für perfekten, harmonischen US-Gitarrenpop standen Real Estate schon länger. Dass aus dieser sehr guten Band nun eine herausragende geworden ist, die sich auch mutige Experimente zutraut, zeigt das neue Album.

Eigentlich schien die Geschichte der vor zehn Jahren gegründeten US-Band Real Estate auserzählt: Schöner Gitarrenpop, gediegene Kompositionen, perfekte Arrangements, mit Martin Courtney ein höchst sympathischer Softie-Sänger.

Alles vielleicht eine Spur zu freundlich und milde, um ganz große Wellen in der Indierock-Szene zu erzeugen. Umso mehr überrascht jetzt "The Main Thing". Das fünfte, erneut via Domino erschienene Album hat endlich die entscheidende Schubkraft, um aus dieser bereits sehr guten Band aus Ridgewood/New Jersey eine herausragende zu machen.

Dabei sind die 13 Songs der Platte gar keine revolutionäre "Neuerfindung" von Real Estate, sondern eine behutsame, aber nachhaltig-nachhallende Weiterentwicklung. Alles auf "The Main Thing" klingt experimenteller, grenzüberschreitender, mutiger als die vier Vorgängerplatten, von denen "Days" (2011), "Atlas" (2014) und "In Mind" (2017) viele Kritiker und Alternative-Pop-Fans begeisterten.

Schon der Opener "Friday" erstaunt - als wenn Real Estate den watteweichen Psychedelic-Elektropop der Franzosen Air zu Zeiten von "Moon Safari" (1998) mit Jangle-Gitarren ins Hier und Jetzt überführen wollten. Ein toller Song, keine Frage. Auch später brechen Real Estate die Strukturen ihrer harmonieseligen Lieder immer so weit auf, dass es spannend klingt, ohne altgediente Fans zu verschrecken.

Die superbe erste Single "Paper Cup" (ein sehr sehenswertes Video auch!) lässt ein paar dezente Disco-Assoziationen zu, der Song hat - erstmals bei dieser Band - ein Streicher-Arrangement. Diese Beigabe adelt auch andere Tracks, etwa "Falling Down" und das fantastische "Silent World".

"You", "Shallow Sun" und "Procession" sind weitere fabelhaft melodische Juwelen im Britpop-Stil der 80er. Das vom noch relativ neuen Gitarristen Julian Lynch getragene "Also A But" entpuppt sich als das ausgefallenste Stück des Albums. Und der instrumentale Closer "Brother" dockt bei den Beach Boys der "Pet Sounds"-Phase an.

Insgesamt fällt auf, dass Real Estate, ähnlich wie etwa Wilco, tatsächlich noch echte, coole Gitarren-Soli beherrschen. Eigentlich eine verpönte Rock-Disziplin, aber diese Truppe kommt damit durch.

Viel Abwechslung und songschreiberische Klasse also bei einer runderneuerten Band - und das war angesichts der schwierigen Vorgeschichte nicht selbstverständlich. Denn 2016 sahen sich die Frontmänner Courtney und Alex Bleeker gezwungen, den hochtalentierten Gitarristen und Songwriter Matt Mondanile an die Luft zu setzen - es gab massive und glaubwürdige Vorwürfe der sexuellen Belästigung von Frauen.

"Diese Band hat auf persönlicher Ebene einige echt schwierige Dinge durchgemacht", sagte Bleeker dazu kürzlich dem Underground-Magazin "Vice". "Wir hatten einen Freund und Kumpel, über den wir leider erfuhren, das er völlig unakzeptable Dinge getan hat - und wir mussten ihn aus Band kicken." Daher sei es "eine Überraschung, dass wir es so weit geschafft haben".

Die Krise war "der Grund, etwas sehr Wertvolles und besonders Substanzielles zu schaffen", ergänzt Courtney, der auf dem neuen Album auch seine Rolle als junger Vater thematisiert. Die Motivation, etwas Anderes, Besseres zu machen als bisher, war sehr groß, bestätigt Bleeker. "Es gab da eine Art Arschtritt für uns. Oh, ich fluche so viel, aber dies ist ja ein 'Vice'-Interview." Geschenkt. Und Danke für eines der ersten großen Alben des Jahres.