Müller-Westernhagen macht “Hottentottenmusik“ in der O2 World. Ein sehr persönlicher Blick auf den Mann mit der John-Lennon-Brille.

Hamburg. Besonders nah sind wir uns nie gewesen, du und ich, Marius. Es war in jenem seltsamen Übergangsstadium zwischen Flower Power und Popper-Ära, dass du in meinem Leben auftauchtest: Die Halstücher rochen nach Patchouli, an Händen und Handgelenken klingelte indischer Silberschmuck, die Hosenbeine nähten wir uns so eng wie irgend möglich an die Waden, die Pullover konnten nicht lang und schlabberig genug sein.

Wir braven Gymnasiasten empörten uns über Atomkraft und Nato-Doppelbeschluss - da krähtest du deinen Spott gegen die Dicken und überhaupt gegen den Rest der Welt in dieselbe hinaus. Die Moralkeule der Political Correctness war noch nicht erfunden, aber ich war verwirrt. Von deinem Raspeltenor und der Unverfrorenheit deiner Texte.

Wann immer ich in den folgenden Jahrzehnten deinen Namen auf Plakaten sah, roch ich wieder die Patchouli-Wolken von damals. Und dachte, den gibt's also immer noch. Doch nun diese Wende: nach 30 Jahren Klassikkonzerten ein Livekonzert mit dir! Unser erster Abend.

"Hottentottenmusik" in der O2 World. Man hätte sich wahrlich einen intimeren Rahmen für unser erstes Zusammentreffen denken können. Für den Wums dieses Auftritts hast du in jeder Hinsicht gesorgt, du Fuchs: Die Vorband - ich verstehe zuerst, sie hießen "Depression", aber sie nennen sich "Impression" - spielt braven Schülerband-Rock vor diesem Vorhang, der irgendwie an Wolkengardinen in einem russischen Wohnzimmer erinnert. Aber dann kommst du, der Vorhang geht hoch, und es wird Licht. Welch Kontrast, welch biblisches Gleißen!

Bühnenpräsenz hast du ja, das muss man dir lassen. Ein paar lange Schritte im schwarzen Gehrock reichen dir, ein paar mutmaßliche Blicke hinter der getönten John-Lennon-Brille - ganz wie damals! -, und du hast deine Fans am Haken.

Du, Marius, an dieser Stelle muss ich dir ein Geständnis machen. Ich, nun, ich ... kenne deine Texte nicht auswendig. Jetzt ist es heraus. Aber ich verstehe schon, für deine Konzerte muss man halt seine Hausaufgaben gemacht haben. Da schmerzt es mich nur ein ganz kleines bisschen, dass ich nur ein paar Wortfetzen verstehe. Aber deine Stimme ist unverkennbar. Auch wenn sie im forte ein paar Kringel mehr macht, als hättest du einen Sprachverzerrer im Mikro.

Bei deinem Song "Willenlos" singen und klatschen die Leute mit. Da hab ich wohl wieder mal ein geheimes Zeichen verpasst. Du aber, offenkundig gerührt von Applaus, Pfiffen und ersten "Marius"-Rufen, wendest dich an dein Volk: dass ihr ein bisschen traurig seid, du und die Band, dass es schon das letzte Konzert der Tournee ist.

Für die Dramaturgie kriegst du jedenfalls ein "sehr gut". Das war jetzt das retardierende Moment, danach geht es ruhiger weiter. Da ist von einem Taxi die Rede, die Leute klatschen den Bluesrhythmus mit, irgendwo leuchten ein paar Feuerzeuge. Und auf der Bühne regnet es. Jedenfalls auf der riesigen Leinwand hinter der Bühne, die dieses Konzert fast mehr beherrscht als die Musik. Wovon die Lieder auch immer handeln, ob Alkohol, Pfefferminz oder Liebe in all ihren Vergangenheitsformen, die Clips illustrieren sie in zwar erwartbaren, aber intelligent montierten Bildern. Oder sie vergrößern dich und deine klasse Band ins Monumentale, sodass ihr optisch zu Spielzeugpüppchen werdet. Immerhin können wir so deine enorm lange und enorm dicke Zunge in Übergröße bewundern, die du besonders dann herausstreckst, wenn deine Backgroundsängerin neben dir steht. Die mit den gefälligen Kurven und der E-Gitarre in der Kehle. Bei "Komm in meine Arme" - den Titel sagst du an, das finde ich jetzt wirklich lieb von dir - umarmst du sie allerdings ganz keusch. Und schlägst eher zartere Töne an, mit Mundharmonika und Countrysound. Das ist eine gelungene Abwechslung zu vielen anderen Songs. Die jaulen und wummern durch wie startende Düsenjäger, dass das Brustbein bebt und die Hämmerchen in den Ohren wirbeln. Nur dass bei dieser dauernden Höchsterregung das Interesse eher erlahmt.

Aber nicht bei allen. Der Bierpegel steigt, die Schüler ein paar Reihen weiter oben haben sich frei gesungen. Man hört's an den beherzten "Marius"-Rufen, die allmählich ins Grölen kippen. Und an der Frequenz, mit der das Publikum "Sexy" oder "Freiheit" skandiert. Seltsame Kombi. Sind eben Songtitel.

Erst mal aber herrscht Krieg, im Lied wie auf der Leinwand. Wir sehen Filmsequenzen aus Vietnam in einem Kinosaal. Ohne diese Brechung wär's wohl allzu hart, aber banal bleibt es auch mit der Brechung. Die Leute singen mit, stehend, mittelalte Pärchen wiegen sich in den Hüften, entrückt lächelnd, als hätten sie sich vor vielen Jahren bei einem Westernhagen-Konzert kennengelernt.

Und dann, endlich: der Stangentanz zum Lied. Da bleibt aus voyeuristischer Sicht fast kein Wunsch offen. Minutenlang geht das so, irgendwann fällt mir ein, dass ich mal wieder zur Rückengymnastik sollte. Der ganze Saal klatscht mit, kreischt mit, fordert ein da capo. Aber du musst ja noch weiter, zu den Zugaben, zum guten alten "Johnny Walker". Eigentlich könnten wir Freunde werden.

Nur sag mal, Marius, findest du das eigentlich besonders feinfühlig, bei deinen Ansagen vom Frauenflachlegen zu erzählen? Oder deine Backgroundsängerin auf der Bühne zu befingern? Gleich an unserem ersten Abend?