Wie weit darf man gehen im Kampf gegen rechtsextreme Ideologien? Dass Julia von Heinz ihr diskussionswürdiges Politstück beim Filmfest Venedig präsentieren durfte, hat seine Gründe.

Berlin (dpa) – Auf ein buntes Oeuvre blickt Julia von Heinz bereits zurück: Die 1976 geborene Filmemacherin drehte Werke wie den Kinderfilm "Hanni & Nanni 2", die romantische Komödie "Hannas Reise", die Hape-Kerkeling-Buchadaption "Ich bin dann mal weg" und einen gelobten Tatort.

Nun legt sie ein Politdrama vor, wie man es seit einigen Jahren nicht mehr gesehen hat im deutschen Kino. "Und morgen die ganze Welt" jedenfalls schreckt vor den ganz großen Fragen rund um die Legitimität von politischem und auch gewalttätigem Widerstand nicht zurück.

Es geht um eine antifaschistische Jugendclique, die es mit Nazis und einer, offensichtlich der AFD nachempfundenen Partei aufnimmt. Als überzeugende Hauptfigur zu sehen ist in diesem Werk Mala Emde ("303", "Wir töten Stella"). An ihrer Seite spielen in dieser deutsch-französischen Koproduktion Victoria Trauttmansdorff, Noah Saavedra und Andreas Lust.

Luisa stammt aus sogenanntem "guten Hause". Ein Anwesen auf dem Land nennen die Eltern ihr Eigen, man pflegt alte Rituale, so etwa die gemeinschaftliche Jagd. Die Tochter studiert zwar artig Jura, nebenbei aber engagiert sie sich als Antifaschistin, stellt sich gar bei einer Polit-WG vor – von der sie schließlich aufgenommen wird. Nicht nur Kommilitonin und beste Freundin Batte ist mit von der Partie, sondern auch zwei junge Männer namens Alfa und Lenor. Die beiden schrecken auch vor Taten, die über Tortenwürfe ins Gesicht von rechten Politikern hinausgehen, nicht zurück.

Im Bannkreis der beiden jungen Männer beginnt sich die anfänglich skeptische Luisa ebenfalls zu radikalisieren. Immer wieder wird sie nun vor Fragen gestellt, bei deren Lösung ihr das Jurastudium allein kein Wegweiser sein kann. Dass sie sich zusätzlich hingezogen fühlt zu Alfa, der sich immer mehr zum Antifa-Leitwolf entwickelt, macht die Sache für Luisa nicht unkomplizierter.

Die besten Dialoge nützen nichts, wenn sie in den Mündern durchschnittlicher Darsteller landen. Julia von Heinz, die das Drehbuch zum Film zusammen mit ihrem Mann John Quester verfasst hat, versteht aber nicht nur etwas von Timing und nicht allzu gekünstelt klingenden Filmsentenzen (und verfügt damit über eine im deutschen Kino nicht selbstverständliche Begabung). Sie versteht es auch, diese Dialoge am Set durch ihr Ensemble auf authentische Art zur Aufführung bringen zu lassen.

Exemplarisch sei die Szene genannt, in der sich Luisa erstmals der Antifagruppe rund um Alfa vorstellt. Auf die Frage "Wovon lebst du?", lässt Emde ihre Luisa auf eine so sympathische wie glaubwürdige Art "Im Moment noch von meinen Eltern" mehr stottern denn sagen: Ein wunderbarer Moment, in dem die bisherige Vita der Jurastudentin mitschwingt genauso wie Luisas Angst, sie könne von den schon etablierten Linken als verwöhntes, mal auf ein bisschen politischen Radau geiles Töchterchen aus hohem Hause abgestempelt werden.

Ohnehin sind es vor allem die Momente, in denen Antifa-interne Rituale präsentiert werden, die diesem Film eine teils fast dokumentarisch anmutende Authentizität verleihen. Was einen simplen und doch wichtigen Grund hat: Die Regisseurin selbst hat sich in ihrer Jugend über Jahre hin in wohl ganz ähnlichen Zusammenhängen bewegt, wie sie hier nun gezeigt werden. Julia von Heinz, dieses Gefühl lässt einen über fast zwei Stunden nicht los, kennt sich aus in der linken Szene.

Sie weiß auch mit kleinsten Details zu beeindrucken. Als sich Luisa, Alfa und Lenor etwa bei einem Alt-Linken verstecken müssen, erfährt man nicht nur, dass dieser Dietmar mal einen Ruf als Bombenleger hatte, kurz sieht man auch Dietmars Hörgerät. So viel Mühe sich Heinz aber gibt bei der Figurenzeichnung im linken Milieu, so holzschnittartig bleibt ihr Blick auf die Gegner: Die Rechten in "Und morgen die ganze Welt" sind nicht viel mehr als eine amorphe Masse dunkel gewandeter Brüllhälse.

Julia von Heinz legt einen Film vor, über den man reden, diskutieren kann – ja, vielleicht muss. Fällt er doch in eine Zeit, in der Themen wie antifaschistischer Widerstand, rechte Gewalt und ähnliches mehr nicht nur bei uns, sondern etwa auch in den USA Thema sind. Teils fühlt man sich zudem 16 Jahre in der deutschen Kinohistorie zurückversetzt: Manches in "Und morgen die ganze Welt" erinnert an "Die fetten Jahre sind vorbei" von Hans Weingartner. Auch damals ging es drei Mittzwanzigern (gespielt von Daniel Brühl, Julia Jentsch, Stipe Erceg) darum, irgendwie irgendetwas zu verändern.

Der anarchistische Drive der "fetten Jahre" war ein anderer, und doch ähnelt die Gesamtkonstruktion von "Und morgen..." an dieses Polit- und Gesellschaftsdrama von 2004. "Die fetten Jahre" waren damals eingeladen in den Wettbewerb des Filmfestivals von Cannes, was vorher länger keiner deutschsprachigen Produktion gelungen war. "Und morgen die ganze Welt" hat vor einigen Wochen nicht viel kleiner begonnen: mit einer beachteten Premiere bei den Filmfestspielen von Venedig.

Und morgen die ganze Welt, Deutschland/Frankreich 2020, 111 Min., FSK ab 12, von Julia von Heinz, mit Mala Emde, Tonio Schneider, Noah Saavedra

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