Köln. Der Klimawandel widerspricht der menschlichen Intuition. Er beginnt langsam und kann plötzlich zu unumkehrbaren Ereignissen führen. Psychologisch erscheint er weit weg. Ein Buch holt ihn nun heran.

Mehr Hitzenächte, Dürren, tropische Mücken. Was uns in 30 Jahren voraussichtlich erwartet, zeigt das Buch "Deutschland 2050 - Wie der Klimawandel unser Leben verändern wird".

Die Journalisten Nick Reimer und Toralf Staud, die seit Jahrzehnten über das Klima schreiben, haben Hunderte Arbeiten gelesen und Praktiker quer durch Deutschland gefragt, was die Daten für sie bedeuten. Rund drei Jahrzehnte erscheinen als nah: 1990 war die Wiedervereinigung und Deutschland wurde unter Franz Beckenbauer Fußballweltmeister.

"Die Hauptmotivation war, dass der Klimawandel so weit weg scheint, dass die Leute es zwar wissen, aber es sie nicht wirklich betrifft", sagt Staud (Jahrgang 1972) bei der Buchvorstellung. 30 Jahre seien aber in der Lebensplanung vieler Menschen drin, etwa beim Wohnungskauf. Eine Dachgeschosswohnung sei absehbar nicht so gut zu dämmen, "dass man dort den Sommer über tatsächlich in halbwegs verträglichen Temperaturen verbringen kann", ergänzt er mit Verweis auf einen Experten des Deutschen Wetterdienstes.

Nicht nur in Groß- sondern auch in Kleinstädten wie Singen am Bodensee werden Menschen unter der Hitze leiden, schreiben Reimer (Jahrgang 1966) und Staud unter Berufung auf Forscher der TU Berlin. "Bislang gibt es selbst an heißen Sommertagen extreme Belastungen mit mehr als 41 Grad nur an wenigen Stellen - 2050 wird praktisch der ganze Stadtkern betroffen sein. Auch Tropennächte, bisher unbekannt in Singen, wird es dort künftig flächendeckend geben." In diesen fällt die Temperatur nicht unter 20 Grad. Erst Richtung Stadtrand sei es dann angenehmer.

Städte bräuchten mehr kühlende Bäume. Doch viele davon starben bereits dürrebedingt oder mussten gefällt werden - selbst in kleineren Städten wie Darmstadt, Fulda, Moers oder Witten. Einige Städte experimentieren etwa mit Mongolischen Linden. Auch Forstexperten suchen nach hitze- und dürreresistenten Ersatzbäumen. Manfred Großmann, Leiter des Nationalparks Hainich, sieht bereits dramatische Schäden selbst im Buchenwald und erwartet in den Wäldern künftig eher "schwachwüchsige Bestände, wie man sie aus dem Mittelmeerraum kennt".

"Deutschland wird 2050 jedenfalls ein anderes Land sein, ein heißeres", heißt es in dem Buch. Hitze und Dürresommer wie 2018 und 2019 werden normal sein. Der Sommer 2018 kostete den Angaben zufolge allein in Berlin mehr als 400 Menschenleben, in Hessen mehr als 700. BASF, ThyssenKrupp und Raffinerien von Shell drosselten die Produktion mangels Nachschub über den kaum mehr schiffbaren Rhein. Nach 2050 dürfte es häufiger Niedrigwasser geben, wenn noch mehr Alpengletscher abgeschmolzen sind, die jetzt als Wasserpuffer dienen.

Zahlreiche Tier- und Pflanzenarten in Deutschland könnten in den kommenden Jahrzehnten wegen des Klimawandels aussterben. So kann die kälteliebende Brockenanemone auf dem höchsten Berg des Harzes irgendwann nicht mehr in höhere Regionen vor der Hitze fliehen. Der Klimawandel habe auch Auswirkungen auf den Fischfang: Heringe laichen in der westlichen Ostsee wegen milder werdender Winter heute viel früher, doch ihre Larven finde dann noch kein Futter. Die Bestände seien nahezu zusammengebrochen. Bereits eingetroffene Tropenmücken dürften sich dagegen in Deutschland weiter ausbreiten.

Landwirtschaftsexperten rechnen mit drastischen Verlusten durch Wassermangel, Dürren, zu warme Winter und Schädlinge. "Spätestens nach 2050 aber wird es mit Weizen auf sandigen Böden extrem schwer", schätzt ein Forscher. Auf Versuchsfeldern nördlich von Berlin wachsen schon Kichererbsen und Hirse, im Alten Land bei Hamburg Aprikosen und Nektarinen. "Am wohlsten fühlen sich Kühe bei 15 Grad", sagt eine Bäuerin in Schleswig-Holstein. Im Sommer 2019 mussten ihre Kühe mit Ventilatoren und Duschen gekühlt werden, dennoch gaben sie weniger Milch. Die Dynamik des Klimawandels widerspreche der menschlichen Intuition, sagt der Potsdamer Soziologe Ortwin Renn in einem Interview am Ende des Buches. Es gebe zuerst kleine, schleichende Veränderungen, doch wenn bestimmte Schwellenwerte überschritten werden, "kommen Prozesse in Gang, die nicht oder fast nicht mehr umkehrbar sind". Darunter ist die Eisschmelze in Grönland. Diese zunächst langsame Dynamik führe dazu, dass auch ein Mensch, der vom Klimawandel weiß, nicht sofort und grundlegend sein Leben umstelle.

Reimer und Staud blicken auch über Deutschland und 2050 hinaus und schreiben klar, dass viele anderen Länder stärker leiden. Für das Klima 2050 seien die Würfel schon weitgehend gefallen: Wir haben den größten Teil der teils langlebigen Treibhausgase, die das Klima in Deutschland dann beeinflussen, schon produziert. Bei strengem Schutz werde das Klima im Jahr 2100 dem von 2050 ähneln. Es wäre zwar viel heißer, aber das Klima könne sich noch einpendeln. Bei ungebremsten Emissionen komme es jedoch zu wirklich unkalkulierbaren Folgen. "In Wahrheit bedeutet nicht Klimaschutz eine große Veränderung", es wäre eher der Verzicht auf Klimaschutz.

Die Autoren haben eine riesige Wissensfülle zusammengetragen, dennoch ist das Buch mit seinem leichten Schreibstil sehr gut lesbar. Die vielen Gespräche mit und Besuche bei Fachleuten geben neue und sehr praxisnahe Einblicke in das voraussichtliche Klimajahr 2050. Zugleich bieten die Autoren durchaus optimistische Expertenaussagen: Auch der Umbau der Wirtschaft stehe an einem Kipppunkt, so seien etwa erneuerbare Energien aufgrund ihres niedrigen Preises nicht mehr aufzuhalten.

- Nick Reimer und Toralf Staud: Deutschland 2050 - Wie der Klimawandel unser Leben verändern wird, Kiepenheuer & Witsch, 384 Seiten, 18,00 Euro, ISBN 978-3-462-00068-9.

© dpa-infocom, dpa:210629-99-185135/2