Berlin. “Du konntest dich eindreiviertel Jahre nicht als Mitmensch auf dieser Welt erleben.“ So beschreibt der Vater die 21 Monate, die sich die psychisch kranke Mutter mit dem Sohn zurückgezogen hat. Eine Aufarbeitung.

Mama kann er nicht zu seiner Mutter sagen. Aber er sähe sie sehr gerne wieder, schreibt der Sohn. "Liebe Grüße." Es ist eine schwierige, eine belastete Beziehung zwischen den beiden.

Wie sehr sie im Argen liegt, erfahren die Leser und Leserinnen in Mischa Mangels Debütroman "Ein Spalt Luft" erst mit der Zeit. Vielmehr: Sie müssen es sich ein Stück weit erarbeiten.

Im Kern geht es darum, dass die Frau kurz nach der Geburt ihre erste Psychose erlitt. Die Ehe geht zu Bruch. Sie zieht sich mit dem Kind zurück. In einer "kleinen, verdreckten Stadt" lebt sie rund 21 Monate mit ihrem Sohn allein. Bis der Vater das Sorgerecht bekommt. Dann beginnt für den Jungen das Leben in einer Familie. Der Kontakt zur Mutter reißt ab. Über Jahre. Jetzt, mit Mitte 30, versucht er zu rekapitulieren und sich seiner Mutter wieder anzunähern.

Mangel hat sein Buch allerdings nicht in der gängigen Form als Fließtext verfasst, vielleicht noch versehen mit ein paar Zeitsprüngen. Vielmehr hat er es als eine Art Collage aufgebaut. Schilderungen aus der Ich-Perspektive wechseln sich zum Beispiel ab mit Auszügen aus Gerichtsunterlagen und Gutachten des Jugendamts - verfasst in entsprechendem Duktus und an manchen Stellen geschwärzt.

Dann wieder folgt die Packungsbeilage eines Medikaments zur Behandlung akuter und chronischer schizophrener Syndrome und akuter psychomotorischer Erregungszustände. Seitenweise werden mögliche Nebenwirkungen aufgelistet. Andere Passagen sind E-Mail-Wechsel.

Wenn der Vater spricht, liest sich der Text umgangssprachlich - im wahrsten Sinne wie das gesprochene Wort: "Sie hat dir in der Zeit sicherlich auch viel Liebe gegeben, verwöhnt, ja, du hass ja in dem Sinne keine Gewalt erlebt, Gewalt, du hass halt nur die Trennung erlebt", erklärt er dem Sohn. "Und deine sozialen, deine soziale Orientierung war dann, war einfach nicht ermöglicht, du konntest dich eindreiviertel Jahre nicht als Mitmensch auf dieser Welt erleben."

So setzt sich nach und nach ein Bild zusammen. Ein Bild, das die Geschichte einer zerbrochenen Familie erzählt. Das den Umgang mit einer komplexen Krankheit deutlich macht. Aus verschiedenen Perspektiven betrachtet - eher professionell von den Gutachtern, eher emotional von den Angehörigen. So gelingt Mangel Ausgewogenheit. Inwiefern der Berliner (Jahrgang 1986), der in Hildesheim Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus studiert hat, in "Ein Spalt Luft" eigene Lebenserfahrungen verarbeitet hat, bleibt offen.

Wer sich darauf einlässt, bekommt eine andere Art von Buch zu lesen. Neben den Inhalten, die mal auch märchenhafte Erzählung oder wirres bis blutig-brutales Gedankengut sein können, wechselt auch das Schriftbild: mal Fließtext, mal rechtsbündig, mal einzelne Wörter oder auch nur Buchstaben über die halbe Seite verteilt. Mal in Versalien, mal ohne Rücksicht auf Groß- und Kleinschreibung. Verschiedene Stimmungslagen der jeweils Handelnden werden hier ebenso veranschaulicht wie die Folgen der Krankheit der Mutter.

Dennoch schafft es Mangel, den Spannungsbogen zu halten. Immer wieder kehrt ein Erzähler mit Außenperspektive zurück und fängt die Lesenden gewissermaßen ein. Dass die selbst die Fragmente zu einem großen Ganzen zusammenpuzzeln müssen, ist zwar eine ungewöhnliche Herangehensweise - aber in bestem Sinne auch eine Abwechslung.

- Mischa Mangel: Ein Spalt Luft. Suhrkamp Verlag, 270 Seiten, 22,00 Euro, ISBN 978-3-518-42989-1.

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