Berlin. Ein Mann wird an einer Landstraße im ländlichen Kalifornien totgefahren. Als seine Tochter herauszufinden versucht, was passiert ist, entdeckt sie viele verstörende Details.

Mit einem dramatischen Moment lässt Leila Lalami ihren Roman "Die Anderen" beginnen. "Mein Vater wurde in einer Frühlingsnacht getötet, während ich in der Ecknische eines Bistros in Oakland saß", erinnert sich die junge Nora.

Gerade, als sie mit einer Freundin deren neues Stipendium feiert, ruft ihre Mutter an. Ihr Vater ist von einem Auto überfahren worden, als er am späten Abend zu Fuß von seinem Café nach Hause ging.

Nora kehrt zurück in die Kleinstadt in der kalifornischen Wüste, wo sich die Eltern niedergelassen hatte, nachdem sie vor Jahrzehnten aus Marokko in die USA eingewandert waren. Nora war einst von dort geflohen, weil sie sich in der Familientradition zu sehr eingeengt fühlte, aber nun fühlt sie sich verpflichtet, mit herauszufinden, wer den Tod ihres Vaters verschuldet hat - und warum.

Die Rückkehr in ihre Heimatstadt bedeutet für Nora auch eine Auseinandersetzung mit ihrer Familiengeschichte. Dabei entdeckt sie viele Facetten, die ein differenziertes und nur selten positives Licht auf die Erfahrungen der Einwanderer werfen. Leicht hatten es Driss Guerraoui und seine Frau Maryam nie. So sehr sie sich auch anstrengten, sie waren nie wirklich akzeptiert in der Gesellschaft. Sie waren immer "Die Anderen".

Lalami erzählt die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven. Neben Nora sind das vor allem Noras früherer Mitschüler Jeremy, der unter den Folgen seines Einsatzes im Irakkrieg leidet, ihre Mutter Maryam, die Polizistin Erica, die den Todesfall untersuchen soll, der Geschäftsmann Anderson Baker, dessen Kegelbahn neben Driss‘ Cafe liegt. Es gibt sogar einen Zeugen, der gesehen hat, wie Driss zu Tode kam. Aber der Mexikaner Efrain ist illegal ins Land gekommen und wagt nicht, sich mit der Wahrheit zu melden.

Die vielen Erzählperspektiven ergänzen einander ganz hervorragend. Alle haben einen Anteil beizutragen, behalten aber stets ihre Individualität und haben ihre natürlichen Grenzen, die sie nicht überwinden können. Bemerkenswert ist vor allem, dass die Stimmen nie so wirken, als seien sie Sprachrohre ihrer jeweiligen sozialen Gruppe. Die Menschen, die ihre Erfahrungen, Beobachtungen und Meinungen äußern, bleiben glaubhafte Individuen.

Leila Lalami hat selbst die Erfahrung gemacht, wie es ist, sich als "Andere" in der amerikanischen Gesellschaft zurechtzufinden. Die 1968 in der marokkanischen Hauptstadt Rabat geborene Schriftstellerin kam als Studentin in die USA und blieb dort, weil sie eine Familie gegründet hatte. Im Interview mit der Zeitschrift "The Nation" betonte sie: "Wenn man an einen neuen Ort zieht, gehört dazu, seine Identitt zu überarbeiten."

Wie wichtig die kulturelle Entfremdung der Romanfiguren für die Erzählung ist, verriet Lalami im "Nation"-Interview: "Anfangs dachte ich, dass ich eine Geschichte über jemanden schreibe, der bei einem Autounfall getötet wird, und über seine trauernde Familie. Aber schon bald drängte das Thema Einwanderung in den Roman."

Wer will, kann "Die Anderen" als eine Art Kriminalroman lesen. Immerhin gibt es einen geheimnisvollen Todesfall, der sogar ein Mord sein könnte und dessen Aufklärung einen wichtigen Handlungsstrang ausmacht. Aber "Die Anderen" hat weitaus mehr zu bieten als Spannung. Der Roman zeigt in beeindruckender Form die vielfältigen Probleme von Einwanderern ihn ihrer neuen Heimat, ohne je die künstlerische Gestaltung einem politischen Dogmatismus zu opfern.

- Leila Lalami: Die Anderen. Kein & Aber Verlag, Zürich, 430 Seiten, Euro 24,00, ISBN 978-3-0369-5833-0.

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