Berlin. Alena Schröder erzählt in ihrem packenden Familienroman von jüdischer Raubkunst und einer Familie mit vielen Geheimnissen.

Der Titel des Romans ist verschlungen und rätselhaft. Neugierig macht er in jedem Fall: "Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid". Das klingt wie eine vage Bildbeschreibung und tatsächlich spielt ein Gemälde Vermeers eine zentrale Rolle in Alena Schröders wunderbarem Familienroman.

Das Verschwinden des Gemäldes und die Suche danach stehen stellvertretend für eines der großen Verbrechen des Nationalsozialismus: Juden wurden systematisch ihrer Kunstschätze beraubt, ihre Werke eingezogen, verkauft und in alle Winde zerstreut. Die Wunde ist bis heute nicht verheilt. Immer noch laufen Restitutionsverfahren. Genau darum geht es in dem Roman.

Die ahnungslose Doktorandin Hannah erfährt durch den Brief einer Anwaltskanzlei, dass ihre betagte Großmutter Evelyn Erbin eines jüdischen Kunstschatzes ist. Es handelt sich um das von den Nazis konfiszierte Vermögen eines Berliner Kunsthauses, dessen Besitzer deportiert und ermordet wurden. Die Großmutter scheint die letzte Überlebende der Familie zu sein. Leider ist sie jedoch keineswegs entzückt darüber, ganz im Gegenteil: Sie weigert sich beharrlich, ihrer neugierigen Enkelin die mit dem Erbe verbundenen Familiengeheimnisse zu enthüllen. Schließlich hat sie diese sehr erfolgreich über Jahrzehnte verborgen.

Am Ende begibt sich Hannah selbst auf Recherche, eskortiert von einem übereifrigen, aber sehr effizienten jungen Wissenschaftler. Die Spur führt zurück in die 20er Jahre, als Hannahs Urgroßmutter Senta von einem eigenständigen emanzipierten Leben in Berlin träumt. Eines Tages bricht sie aus ihrem Korsett als in der Provinz verkümmernde Ehefrau und Mutter aus. Sie trennt sich von ihrem Mann, lässt ihre Tochter Evelyn bei der ungeliebten Schwägerin zurück und stürzt sich in das aufregende Leben in der Metropole. Während sie sich von ihrer Tochter immer mehr entfremdet, knüpft sie wertvolle Kontakte: Sie lernt den Reporter Julius Goldmann kennen, Sohn eines bekannten jüdischen Kunsthändlers, und beginnt mit ihm ein neues Leben als Journalistin. Alles ist gut, bis die Nazis die Macht übernehmen und der jüdischen Familie langsam die Luft abschnüren.

Alena Schröder verknüpft geschickt das historisch einzigartige Drama um den jüdischen Kunstraub mit dem zeitlosen Mutter-Tochter-Konflikt und der höchst aktuellen Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Der Konflikt zwischen den Generationen wird in der Familie laufend weitervererbt. Denn auch die von ihrer Mutter so enttäuschte Evelyn hat später ein gebrochenes, kompliziertes Verhältnis zu ihrer so ganz anders gearteten Tochter. Jede Generation rebelliert auf ihre Weise gegen das elterliche Vorbild.

Alena Schröder, freie Journalistin und Autorin (u.a. für das "SZ-Magazin"), hat sich die eigene Familiengeschichte zum Vorbild für ihren Debütroman genommen. Ihre Urgroßmutter verließ tatsächlich seinerzeit ihre Familie, um ihren Traum von einem Leben als Journalistin zu realisieren und teilte durch ihre zweite Heirat das Schicksal einer jüdischen Kunsthändlerfamilie. Vielleicht ist der Roman deshalb so authentisch und lebensecht geraten. Er unterscheidet sich darin jedenfalls wohltuend von der Flut ähnlich gelagerter Familienromane, deren Protagonisten weniger das Lebensgefühl von einst als vielmehr das von heute in die Vergangenheit transportieren. Schröder ist hier ein packendes, unter die Haut gehendes Stück Zeitgeschichte gelungen.

Alena Schröder: Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid, dtv, München, 368 Seiten, 22,00 Euro, ISBN 978-3-423-28273-4.

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