Berlin. Hellsichtig und souverän: Der Erzähler Ralf Rothmann wandelt elegant durch Zeiten und Milieus und erweist sich erneut als Meister der kurzen Form.

Ein seltsames, schwer zu fassendes Unheil nistet in den neuen Erzählungen von Ralf Rothmann, die scheinbar mühelos eine Vielfalt von Stimmen und Figuren zum Sprechen bringen.

Im Band "Hotel der Schlaflosen" begegnen wir Akademikern und Künstlern, aber auch, wie so oft bei diesem Autor, Bauarbeitern, Kindern oder Bergleuten aus einer längst vergangenen Zeit. Fast immer zieht sich ein unsichtbarer Riss durch diese Existenzen, und die Angst scheint manchmal übermächtig zu werden.

Die nicht mehr ganz junge Geigerin Emilia bereitet ein Konzert in einer Berliner Kirche vor. Eine Saite an ihrem Instrument reißt, sie fährt mit dem Taxi zurück ins Hotel und erinnert sich an wilde West-Berliner Zeiten, als der verrückte Punker Iggy Pop am WG-Küchentisch saß und Drogen naschte. Das war die Freiheit, aber die Erzählung markiert das Ende: Emilia ist todkrank, aber ganz bei sich. Sie öffnet das Fenster, es ist einfach, "dieser eine Schritt über alles hinaus".

Das ist schon meisterhaft, wie souverän der 1953 in Schleswig geborene, seit 1976 in Berlin lebende Rothmann auf knapp 20 Seiten ein Leben vor unseren Augen ausbreitet. Immer wieder führen die Geschichten in die Krise, nicht selten in den Tod. Aber es bleibt auch ein Rest Hoffnung, die unermüdliche Suche nach dem "tief verschütteten Glücksvorkommen", wie es in der bewegenden Erzählung "Geronimo" heißt. Sie spielt im Ruhrgebiet Anfang der 1960er Jahre und erzählt von der fast stummen Beziehung eines kohlengrauen Malocher-Vaters zu seinem Sohn. Da geht es um Cowboys und Indianer, die Einsamkeit eines Kindes und fast schon exotische Fernsehserien wie "Bonanza", mit denen man sich aus dem grauen Alltag wegträumen konnte.

Es schwingt aber immer auch etwas anderes mit in diesen polyphonen Erzählungen, die sehr exakt und detailgenau in ihren Beschreibungen sind, aber dennoch um ein Geheimnis zu kreisen scheinen, das man nicht in Worte fassen kann. Wie in der Erzählung "Alle Julias": Juliane, eine Frau aus dem akademischen Milieu, räumt ihre Wohnung aus, ein Umzug steht an. Sie blättert Notizen ihres Mannes Marcel durch, eines Kunstkritikers. Da ruft eine uralte WG-Kumpanin aus Freiburg an. Gleichzeitig beobachtet Juliane Eichhörnchen vor ihrem Fenster, entdeckt ein winziges Loch im Strumpf, und hört die Glocken des Freiburger Münsters. Der abwesende Mann bleibt eine Leerstelle. Dafür liest sie Texte von ihm, die sich um die großen letzten Fragen drehen. Kunst, Metaphysik und Alltag sind hier auf wenigen Seiten ganz zart und zugleich schmerzhaft verwoben.

Die auf wahren Ereignissen beruhende, brutale Titelerzählung "Hotel der Schlaflosen" führt dagegen mitten hinein in die Zeit des stalinistischen Terrors. Der zu Unrecht denunzierte Dichter Isaak Babel (1894-1940) und sein Henker Wassili Blochin führen ein letztes Gespräch vor der Exekution - eine abgründige, makabre Geschichte, die in diesem Band ein wenig wie ein Fremdkörper wirkt.

Ganz tief ins Unheil führt auch die traurige Erzählung "Und auch das geht vorbei": In kurzen Staccatosätzen zieht ein Frauenleben vorbei, in dem seit früher Kindheit fast nur Gewalt herrscht. "Der Glanz im Leben: Bohnerwachs". Mehr war da nicht, und der Trost einer Katze ganz am Ende.

Aber es gibt auch humorvolle Lichtblicke wie die lustige deutsch-deutsche Berlin-Geschichte "Das Sternbild der Idioten" oder die leicht gruselige Story "Der Wodka des Bestatters", mit der Rothmann dem großen Erzähler Johann Peter Hebel seine Reverenz erweist.

Ralf Rothmann: Hotel der Schlaflosen, Suhrkamp Verlag Berlin, 205 Seiten, 22,00 Euro, ISBN 978-3-518-42960-0.

© dpa-infocom, dpa:201130-99-515668/2