Berlin. Ein Vergewaltigungsopfer wird zur Täterin. Ein berührender Roman aus Frankreich zur MeToo-Debatte.

Der Auftakt des Romans ist schier unfassbar: Eine junge Frau vergiftet sich und ihre Familie mit einem Abendessen. Das ist das grauenhafte Ende einer bürgerlichen Bilderbuchfamilie, deren Leben seit langem nur noch Fassade war.

Am Anfang und Ende eines quälenden Zerstörungsprozesses stehen zwei brutale Verbrechen, dazwischen herrschen Schweigen und Scham. In ihrem ebenso atemberaubenden wie schockierenden Debütroman erzählt die Französin Inès Bayard (Jahrgang 1992) von den erschütternden Folgen einer Vergewaltigung.

"Scham" konfrontiert uns mit allen Aspekten der MeToo-Debatte: Missbrauch durch einen mächtigen Vorgesetzten, Ausnutzen und Erpressen einer Abhängigen, Angst, Schweigen und Scham des Opfers, die schließlich zu Vereinsamung, Entfremdung und Selbsthass führen. Aus dieser Abwärtsspirale gibt es hier keine Erlösung, nur die Selbstauslöschung des Opfers.

Der Absturz der jungen Frau ist umso brutaler, als Marie zuvor ein perfektes Leben führte. Behütet und umsorgt aufgewachsen, stand sie immer auf der Sonnenseite des Lebens. Sie erfuhr kein "Leid, keine einziges familiäres, materielles oder emotionales Problem". Später macht sie gerade diese Sorglosigkeit, die fehlende Abhärtung für ihre geringe Widerstandskraft verantwortlich, für den immensen Drang, den schönen Schein aufrechtzuerhalten.

Ihre Ehe mit Laurent, einem erfolgreichen Scheidungsanwalt, ist harmonisch. Sie wünscht sich nichts sehnlicher als ein Kind von ihm. Auch ihre Arbeit als Vermögensberaterin bei einer Bank fällt ihr leicht. Bis zu dem Tag, als der Chef ihrer Bank sie unter dem Vorwand, sie nach Hause bringen zu wollen, im Auto vergewaltigt.

Der grausame Akt, von der Autorin in aller Drastik geschildert, setzt bei Marie eine Lawine in Gang. Ekel und Abscheu machen sich in ihr breit - vor ihrem eigenen Körper, vor der Sexualität ihres Mannes und vor Männern überhaupt. Zum anderen wird ihr Leben zum Versteckspiel. Wie viele missbrauchte Frauen lässt sie sich von den Drohungen ihres Vergewaltigers einschüchtern. Dazu kommt unendliche Scham. Weder ihrem Mann, noch ihrer Familie oder ihren Kollegen erzählt sie ein Wort.

Mehrfach eröffnet sich ihr unverhofft die Chance, das tödliche Schweigen zu durchbrechen, etwa als ihre Schwester per Zufall die Wahrheit entdeckt oder einer Kollegin die gleiche Gewalt angetan wird, tatsächlich aber werden am Ende alle Teil eines Schweigekartells. Die Lage spitzt sich zu, als Marie schwanger wird. Sie will das Kind, das sie als Frucht der schrecklichen Vergewaltigung sieht, abtreiben, doch es misslingt.

Von der ersten Minute an verabscheut sie das Baby, ekelt sie sich speziell vor seinem Geschlechtsteil: "Sein bläulicher Penis ist geschwollen, aufgequollen, fast entzündet. Man könnte meinen, das Baby sei gerade vergewaltigt oder geschlagen worden." Sie verwehrt dem Kind jede Zärtlichkeit, vernachlässigt es systematisch, ja versucht es sogar umzubringen. Maries Verhalten verstört und irritiert, aber ihre Hilferufe werden nicht verstanden. Nicht einmal von ihrem Mann.

Bayards Roman stand in Frankreich auf der Longlist für den renommierten Prix Goncourt 2018. Und das zu Recht. Denn er erzählt ein hochaktuelles Thema so beklemmend, so unter die Haut gehend und schmerzhaft einfühlsam, wie es bei einem Erstlingswerk nur selten gelingt. Dass man trotz aller Düsternis dran bleibt, liegt an dem thrillerhaften Sog, den die Handlung entfaltet, die einen mitfiebern und mithoffen lässt. Auch wenn wir natürlich wissen, dass das alles ganz umsonst ist. Denn das Ende ist uns ja von Beginn an bekannt.

- Inès Bayard: Scham, Paul Zsolnay Verlag, Wien, 224 Seiten, 22,00 Euro, ISBN 978-3-552-05976-4

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