Berlin. Eine mexikanische Mutter und ihr Sohn fliehen vor einem Drogenkartell in die USA: “American Dirt“ rief eine heftige Debatte in den USA hervor, bevor der Roman überhaupt erschien. Nun liegt er auf Deutsch vor. Ist das Buch nun gut oder schlecht?

"Sie fühlte sich wie Rührei." So heißt es irgendwann über Lydia, die Protagonistin in Jeanine Cummins umstrittenem Fluchtepos "American Dirt". Der Roman startet direkt mit einem Massaker. Aber kann man beschreiben, wie ein Mensch sich fühlt, dessen komplette Familie ermordet worden ist?

16 Tote finden sich auf den ersten 12 Seiten, dazwischen Lydia und Luca, eine mexikanische Mutter und ihr acht Jahre alter Sohn, die vor den Morden aus ihrer Heimatstadt Acapulco fliehen werden, Ziel: Denver, USA. Wer weiter liest, muss durch mehr als 550 Seiten Blut, Angst und den titelgebenden Schmutz, das Adjektiv "schrecklich" wird sehr oft verwendet. Und irgendwann kommt leider der Rührei-Vergleich.

Lydia und Luca kauern im Badezimmer, während im Garten das Kartell Los Jardineros um den Drogenboss Javier Crespo Fuentes die Großfamilie totschießt, darunter Lydias Mann und Lucas Vater, Sebastian, ein Journalist, der über das Kartell berichtete. Er hat noch die Grillzange in der Hand, als sein Blut "in den Terrassenboden aus Beton sickert". Das mit der Grillzange wird so oft erwähnt wie dass er tot ist, trotzdem heißt es: "Sie tritt zu Sebastian, der sich nicht rührt." Tote können sich auch schlecht rühren, denkt man, und da hat der Roman erst begonnen.

Also: Kann man beschreiben, wie jemand sich fühlt, dessen komplette Familie gerade ermordet worden ist? Vielleicht haben Mafia-Filme es einfacher, denn die blutigen Bilder können für sich stehen. Cummins wiederum muss sie als Autorin ständig um die Gefühle ihrer Figuren ergänzen. Wobei sie das nicht mal müsste, sie könnte auch mit subtilen Beschreibungen arbeiten. Subtil ist in "American Dirt" aber gar nichts. Der Leser wird sicherheitshalber permanent daran erinnert, dass Lydia und Luca nun traumatisiert sind. Leider wirkt das sprachlich nicht nur unbeholfen, oft sind die Bilder auch schief.

So spürt Lydia, "dass eine weitere Wolke aus Verzweiflung sich auf sie niedersinken will", und "die Stunden ziehen wie Schlamm an ihr vorbei". Außerdem fühlt sich ihr Gehirn "so merkwürdig an, gleichzeitig manisch und schwammig", während es über Luca einmal heißt, es wirke "als sei seine innere Orientierung im Urlaub". Schreibt man so über ein Kind, das ein Massaker überlebt hat?

Lydia startet also die Flucht in die USA, denn: "Sie muss an der Auslöschung ihrer Familie vorbeidenken." Die Reise führt auf den Dächern tödlich schneller Güterwaggons in die Hände finsterer Entführerbanden bis hin zur Wanderung durch die Wüste samt wirklich freundlichem Schlepper. Dabei lernen Lydia und Luca zwei - natürlich - bildschöne Schwestern kennen, die - natürlich - immer wieder vergewaltigt werden müssen. Auch das soll der Leser nicht vergessen: "Es ist noch nicht lange her, dass sie diese anderen Traumata ertragen mussten." Zu allem Überfluss entwickelt sich der kleine Luca zu einem altruistischem Übermenschen, der keine Angst hat, sich einem Gangsterboss entgegen zu stellen. Als Achtjähriger.

Damit nicht genug. Cummins erzählt diese Fluchtgeschichte nicht linear, sondern berichtet in Rückblenden vom idyllischen Familienleben mit Sebastian und ihrer Beziehung zum Drogenboss Fuentes - der Stammkunde in ihrer Buchhandlung war. Hier übertritt die Autorin gekonnt die Grenze zum Groschenroman. Lydia und Fuentes haben das gleiche Lieblingsbuch ("Die Liebe in den Zeiten der Cholera"), einmal liest der Mafiaboss eins der Gedichte vor, die er heimlich schreibt. Lydia ist gerührt.

Dann erfährt sie von ihrem Mann, wer ihr Stammkunde ist. Es folgt ein Gespräch mit Sebastian, in dem Lydia sagt, vielleicht sei Fuentes gar nicht so schlimm - "diese gequälte Dichterseele, voller Reue"? Und es folgt eine Aussprache mit Fuentes aus dem Dialog-Setzbaukasten für Rosamunde-Pilcher-Filme: "Er raufte sich verzweifelt die Haare. "Du weißt, ich wollte das hier niemals. Es war ein Versehen des Schicksals, dass ich hier gelandet bin."" Als er diesmal geht, sieht sie Blutspritzer auf seiner Brille. Da will man rufen: Eher unwahrscheinlich, dass der oberste Drogenboss Acapulcos noch selbst mordet! Und wenn würde er wohl seine Brille putzen, bevor er unter Leute tritt!

"American Dirt" ist in den USA hoch umstritten. Der Vorwurf lautet, Cummins könne als weiße Autorin (mit puertoricanischer Großmutter) nicht die Perspektive einer Mexikanerin einnehmen. Ihr war das bewusst. "Ich fürchtete, dass ich als Nicht-Immigrantin und Nicht-Mexikanerin kein Recht dazu hatte, ein Buch zu schreiben, das fast ausschließlich in Mexiko und unter Migranten spielt", schreibt sie im Nachwort des Romans.

Kritiker werfen ihr nun "Trauma-Porno" mit "Klischee-Charakteren" vor. Der Star-Autor Stephen King dagegen spricht von einem "verdammt großartigen Roman". Und vielleicht liest er sich auf Englisch besser. Am dürftigen Plot ändert aber auch die Sprache nichts.

Cummins, die bislang drei Bücher geschrieben hat und als Lektorin arbeitete, schreibt auch, sie habe einen illegalen Einwanderer geheiratet und ein persönliches Interesse an dem Thema Migration. "Ich interessiere mich für Figuren, die unglaubliche Härten ertragen müssen, für Menschen, die es schaffen, über außergewöhnliche Verletzungen zu triumphieren."

Gut an "American Dirt" ist, dass es die Aufmerksamkeit auf eines der wichtigsten Themen unserer Zeit richtet. Bleibt zu hoffen, dass weitere Autoren darüber schreiben. Und es besser machen - differenzierter, leiser, glaubwürdiger. Ohne Showdown in der Wüste, per Telefon.

- Jeanine Cummins: American Dirt, Rowohlt, 560 Seiten, 15 Euro, ISBN 978-3-499-27682-8.