Berlin. 20 Jahre nach ihrer letzten Veröffentlichung überrascht Eva Schmidt mit einem subtilen Episodenroman.

"Am Fenster zu stehen und den Kopf in die Luft zu stecken, machte ihn sehnsüchtig. Sehnsüchtig sein heißt nicht wissen, wohin man möchte."

Dieses Zitat von Robert Walser hat Eva Schmidt (64) ihrem neuen Buch "Ein langes Jahr" vorangestellt. Und tatsächlich erscheint es wie der Leitgedanke dieses kleinen, feinen Romans, mit dem die österreichische Autorin nach 20-jähriger Abwesenheit auf die Literaturbühne zurückkehrt und auf der Shortlist (sechs Autoren) für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde.

Denn die Menschen, von denen Schmidt erzählt, sind von Sehnsucht getrieben - der Sehnsucht nach einem anderen Leben oder auch dem Leben der Anderen. Deshalb stehen sie auch besonders viel an Fenstern herum oder auf Balkonen oder Terrassen und beobachten ihre Nachbarn. Alle sind hier mehr oder weniger Voyeure: Der Mann aus dem Hochhaus in Bomberjacke und Springerstiefeln, der vom Balkon aus seine Nachbarin aus dem Siedlungshaus belauert. Oder die alleinstehende ehemalige Fotografin, die abends in ihrem Garten den herüberwehenden Klängen und Stimmen aus dem Mehrfamilienhaus lauscht. Bis sie bemerkt, dass sie ebenfalls observiert wird, von einer Zigaretten rauchenden, langhaarigen Frau aus der Wohnung gegenüber: "Immer stand sie dabei mit dem Rücken zur Balkontür, den Blick geradeaus, direkt auf mein Haus gerichtet."

Die Welt als Mikrokosmos, zusammengeschrumpft auf eine Stadt am See, auf eine Siedlung im Tal: "Aus der Luft, von einem Flugzeug aus gesehen, sieht die Stadt mit allen ihren Ausbuchtungen und Engstellen aus wie ein riesiger, mit dem Maul im Wasser liegender Fisch." Bei näherer Betrachtung ist diese Stadt am See als Bregenz zu identifizieren, Heimat der Autorin. Die Szenerie ist melancholisch-schön: "Wenn man Glück hat, ist das Wetter dunstig, die Farben des Wassers, der Stadtsilhouette, auf die man zufährt, und des Himmels darüber hell und zart. Golden schimmern manche Dächer, blitzen in den Sonnenstrahlen, die schwach durch den Dunst dringen, hier und dort auf."

Leichte Melancholie liegt auch über den 38 Miniaturszenen, aus denen der Roman zusammengefügt ist, ein Mosaik aus menschlichen Schicksalen, die erst wie vereinzelt nebeneinander stehen, um sich schließlich zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Nach und nach entsteht ein fein gewebtes Beziehungsnetz: Kinderfreundschaften entstehen, Paare finden sich, manchmal auch alte und junge Menschen.

Sehr oft sind es Hunde, die die Sprachlosigkeit auflösen und Menschen zusammenbringen. Hunde mit exotischen Namen wie Hem oder Kerk als moderner Beziehungskitt. Die menschlichen Bindungen allerdings sind immer fragil und gefährdet. Bisweilen weiß man von Beginn an, dass sich die Paare wieder trennen werden, da sie nicht zueinander passen. Dann wieder ist es der Tod, der brutal dazwischen fährt. Zurück bleibt die Einsamkeit.

Eva Schmidts Alltagspanorama erscheint unspektakulär. In einer unaufgeregten, ruhigen Sprache schildern die aneinandergereihten Episoden das ganz normale Leben in einer ganz normalen mitteleuropäischen Stadt. Bilder vom Nachbarn sozusagen. Doch selten wurde mit so großer Tiefenschärfe und Wahrhaftigkeit vom Wunsch nach Zuwendung und Nähe erzählt, aber auch von Fernweh und Sehnsucht nach Grenzüberschreitung.

- Eva Schmidt: Ein langes Jahr, Jung und Jung Verlag, Salzburg und Wien, 212 Seiten, 20,00 Euro, ISBN 978-3-99027-080-6.