Colum McCann schreibt in seinem Roman “Die große Welt“ über die Versuche der New Yorker Lebenskünstler, die Balance zu halten.

Er geht auch einmal in die Knie auf seinem Seil, und am Anfang, da ist er erst ein paar Minuten in der Luft, entledigt er sich seines Sweatshirts und lässt es einfach fallen. Ein Aufschrei geht durch die Menge. Es sind viele, die ihn, es ist der 7. August 1974, dort oben entdeckt haben. Sie sind wie Lemminge, die gerade in ihre Büros in New York strömen wollten. Aber als sie ihn da oben sehen, den Einzelnen, bleiben sie. Und sie bangen mit ihm, dem die Welt zu Füßen liegt.

"Wer ihn sah, verstummte", so hebt die voluminöse New-York-Hymne an, die der Ire Colum McCann in einem pathetischen Ton komponiert hat. Es ist kein falsches Pathos, das aus McCanns fünftem Roman "Die große Welt" tönt. Sondern ein zurückhaltendes, das sich viel weniger im Stil äußert, sondern in der Feier dieser großartigen, verderbten, kaputten Stadt, die die Menschen einsaugt, sie benutzt, durchschüttelt, ausspuckt, behält - oder tötet.

So wie den jesusgleichen jungen Dubliner Corrigan, der sein Leben Ihm widmet, Gott, dem Allmächtigen, der Corrigan dessen Verletzlichkeit spüren lässt, ohne ihn zweifeln zu lassen. Noch als Junge in Irland säuft Corrigan mit den Pennern, obwohl er den Alkohol nicht mag. Er will fühlen wie sie, die am Rand der Gesellschaft stehen. Er kümmert sich um die Nutten in der Bronx, die zwischendurch in seine Wohnung dürfen, um ihre Tampons in seinen Papierkorb zu werfen. Er hilft denen, die Bodensatz sind. Auch den farbigen Dirnen Tillie und Jazzlyn.

Tillie, die 38 ist und Jazzlyns Mutter, ist die Symbolfigur des Romans, der kein schöner ist, aber lebenssatt in seiner prallen Beschreibung der Wirklichkeit. Tillie kann ihrem Schicksal nicht entrinnen, sie ergibt sich der Stadt mit Haut und Haaren. "Was will McCann nach dieser herzzerreißenden Symphonie von einem Roman denn noch komponieren?", fragte sich der unlängst verstorbene Frank McCourt, auch er Ire.

McCourt war Lehrer, McCann hat als Drehbuchautor und Journalist gearbeitet. Sein Schreiben hat keine Erdenschwere, es ist luftig, es ist einfach. Man findet auf jeder Seite den Drehbuchschreiber, die Dialoge tragen die Handlung, so wie sein Selbstbewusstsein den Seiltänzer trägt, der von einem Turm des World Trade Centers zum anderen läuft, 400 Meter über der Erde. Am Tag der Heldentat, die der wahren Begebenheit - es war der Franzose Philippe Petit, der den New Yorker Himmel küsste - folgt, stirbt Corrigan. Sein Tod verändert das Leben der Künstlerin, Krankenschwester, Mutter.

Es ist ein vielstimmiges Stück, das hier aufgeführt wird. Die Polyphonie ist klug durchdacht, berechnet, auch mit Kalkül bewerkstelligt. Wie der Seiltänzer sich auf die Bewunderer seiner Sensation beruft, kann sich McCann auf die Leser verlassen, die seiner atemlosen New-York-Revue folgen. Sie steht in der Tradition von Dos Passos oder "Falling Man" von Don DeLillo. Auf einer historischen Aufnahme ist Petit zu sehen, auf seinem Drahtseil, rechts von ihm ist ein Turm, links ein anderer. Im Hintergrund fliegt ein Flugzeug.

Colum McCann Fr 18.9., 21.00, "Cap San Diego" (U Baumwall), 12 Euro