München. Der wegen seiner Verdienste um die englische Literatur geadelte Bestseller-Autor und Schöpfer der „Scheibenwelt“ Terry Pratchett trumpft auch mit seinem neuen Roman „Eine Insel“ auf. Für Kinder und Jugendliche ist dies ein packender Abenteuerroman, Erwachsene werden mit Gewinn Pratchetts subtile Botschaften aufnehmen.
Mau ist ein 13-jähriger Junge, der irgendwo auf einem kleinen Eiland im Pelagischen Ozean lebt, das für ihn der Mittelpunkt der Welt ist. Die Sitten seiner „Nation“ verlangen es, dass er für einen Monat auf die Jungeninsel zieht, um von dort als Mann zurückzukehren. Ein riesiger Tsunami vernichtet seine Heimat und alle Bewohner, statt eines triumphalen Empfangs erwartet ihn Zerstörung. Zur selben Zeit ist von England aus – auf der Flucht vor der Russischen Grippe – die „Sweet Judy“ mit Daphne gestartet, um sie, ein Mitglied der königlichen Familie, zu ihrem Vater zu bringen.
Das Schiff strandet, Daphne (eigentlich Ermintrude) landet auf Maus Insel. Es begegnen sich zwei Menschen, die auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein könnten: Hier der „Wilde“ mit seinem Glauben an Geister, der auf die Stimmen der Großväter hört, für den alles eine Seele hat und nach dessen Mythen die Menschen nach ihrem Tod zu Delfinen werden – dort die nach höfischer Etikette erzogene Europäerin, der man beigebracht hat, „dass eine Dame niemals etwas Schwereres zu tragen habe als einen Sonnenschirm“.
Doch diese Gegensätze erweisen sich als Glücksfall: Als weitere Flüchtlinge von Nachbarinseln auf dem Eiland eintreffen, sind es die beiden, die die Stärken ihrer so unterschiedlichen Kulturen nutzen, um sie alle überleben zu lassen. Hinreißend komisch die Szenen, in der Mau eine Muttersau „melkt“, um ein Neugeborenes zu ernähren. Und es ist ausgerechnet Daphne, die einer Schwangeren bei der Geburt beisteht – ein Mädchen aus dem puritanischen England, wo man selbst die Tischbeine verhüllt, weil Beine immer unmoralisch sind.
Die Gestrandeten überleben, weil sie modernes Gerät vom Wrack der „Sweet Judy“ zur Verfügung haben und die Jahrhunderte alten Rezepte und Kenntnisse von Maus Vorfahren nutzen. Am Ende kehrt Daphne als Königskind nach England zurück und Mau bleibt als „Häuptling“ und Wahrer der unschätzbaren Zeugnisse aus der Frühzeit der Menschen, die seine Insel birgt, zurück.
Beide Kinder lernen in dieser Ausnahmesituation, das was ihnen ihre Erzieher als unumstößliche Wahrheiten beigebracht haben, zu hinterfragen. Mau zweifelt an den Göttern: Wenn es sie gibt, warum haben sie dann die „Nation“ sterben lassen? Er verletzt die Tabus, die seine Gesellschaft ihm auferlegt hat, indem er in die Grabkammern der Großväter einbricht und eröffnet sich eine neue, eigene Welt: Denn hier, auf seiner Insel, hat die Menschheit ihre Wurzeln.
Daphne wiederum befreit sich aus dem engen Korsett von Etikette und Standesdünkel, in das sie ihre adlige Herkunft gezwängt hat und ihre Wissbegier, ihre natürliche Empathie für Menschen zu ersticken drohte. Fortan will sie nicht darauf reduziert bleiben, als Frau an der Seite eines bedeutenden Mannes zu leben, sie will eigenständiges Mitglied in der Royal Society werden.
In einer Szene sitzen alle Bewohner der Insel über Räuber zu Gericht und fällen gemeinsam und einstimmig ihr Urteil, und es wird wahrhaftig „Im Namen des Volkes“ gesprochen. Vorurteile konterkariert der Autor bis zur Satire und mit der für ihn typischen humorvollen Sprache: So hat ein Kannibalenhäuptling eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Premierminister von England, ein anderer mit dem Erzbischof von Canterbury. Oder es wird das Verspeisen von Menschen durch die „Wilden“ dem Ritus der „Wandlung“ in der katholischen Kirche gegenübergestellt. Diese Szenen lassen nachdenklich innehalten, bis man durch die spannende Handlung zum Weiterlesen getrieben wird. Die englische Zeitung „Independent“ hat „Nation“ („Eine Insel“) zu den 20 besten Büchern des Jahres 2008 gezählt. Jetzt ist es auch in Deutschland erschienen.
Terry Pratchett: Eine Insel, Goldmann Verlag, München, 448 S., Euro 19,95, ISBN 978-3-442-54655-8
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