Tiger in einem kalten Ort. Jonathan Lethems apokalyptischer New-York-Roman “Chronic City“ ist ein verschlüsselt-verspielter Genuss.

Hamburg. Wahrscheinlich ist es, wenn man Jonathan Lethem heißt und einer der wichtigsten amerikanischen Gegenwartsautoren ist, kein Wagnis, den Helden eines Romans Chase Insteadman zu nennen. Auf Deutsch heißt das ja in etwa: "Stell jemand anderem nach." Das spricht nicht unbedingt für die Person hinter dem Namen.

Im Falle von Lethems verschlüsselt-verspieltem Roman "Chronic City" ist der Name aber ein Hinweis auf etwas Grundsätzliches: Man sollte nicht alles für sich nehmen, sondern suchen, was hinter dem ersten Verständnis eines Satzes steht. Lethem schickt seine taumelnden Figuren nämlich in eine Zwischenwelt, in der nicht klar ist, was wirklich ist und was inszeniert.

Das macht den (zwar) unbeschwert erzählten Roman, es ist der fünfte von Lethem, gewiss zu einem anspruchsvollen Vergnügen, denn er ist eine Aufforderung für Spürnasen.

Hauptfigur von "Chronic City" ist der bereits erwähnte Chase Insteadman, ein ehemaliger schauspielernder Kinderstar. Seine große Zeit ist vorbei, er ist nur noch so eine Art gesellschaftliches Maskottchen im New York der Nullerjahre. Dieses porträtiert Lethem in seinem Roman als kalten Ort, an dem man eher die apokalyptischen Reiter um die Ecke biegen sieht als eine Konfettiparade. Die Stadt ist nicht mehr der traumhafte Ort, an dem sich jeder selbst verwirklichen kann. An dem die Mainstream- und Subkulturkünste gedeihen. An dem freundliche Menschen fröhliche Feste feiern. In New York ist die Party vorbei: wegen 9/11, wegen des Irak und Afghanistans, wegen der Finanz- und Wirtschaftskrise, wegen dem, was man Gentrifizierung nennt. Das New York des Romans ist unwirtlich, es liegt Schnee, es ist kalt das ganze Jahr über.

Insteadman hat zwei Freunde, den Kritiker Perkus Tooth und den beim Bürgermeister angestellten Richard Abneg. Das überdrehte Dreiergespann jongliert am liebsten mit Worten und ist dabei meistens bekifft. "Chronic City" ist der Name ihrer liebsten Marihuanasorte. Das Trio trifft sich meist in Tooths Wohnung. Manchmal auch auf gesellschaftlichen Anlässen, die ebenfalls eine auffällige Kühle verströmen.

Es sind seltsame Themen, über die die feine Gesellschaft spricht. Weil seltsame Dinge geschehen, deren Ursprung in der gesellschaftlichen Großwetterlage liegt. Man spricht über den "Tiger", der durch New York zieht und Häuser zum Einsturz bringt. Dabei wird nicht klar, ob dieser Tiger in stillschweigendem Einverständnis nur metaphorisch als solcher betrachtet wird. In der New Yorker Kampfzone regiert das Geld, und wenn Häuser einfallen, die mietpreisgebunden sind, kann das nur gut sein für Stadtplaner, die die Bereitstellung von Luxuslofts für unbedingt wünschenswert halten. Weshalb andere zu wissen glauben, dass dieser Tiger in Wirklichkeit eine Tunnelbohrmaschine ist, die U-Bahn-Schächte aus der städtischen Erde frisst.

Außerdem reden die Abendgesellschaften über Chase Insteadman und seine tragische Liebesgeschichte. Seine (erfundene) Verlobte Janice Thrumbull schwebt in ihrem Raumschiff manövrierunfähig im Weltraum. Ihre sehnsüchtigen Liebesbriefe werden in der Zeitung abgedruckt, damit sich die Leser an ihnen erbauen. Die "New York Times" erscheint in "Chronic City" übrigens zusätzlich in einer kriegsfreien Ausgabe. Man will die schreckliche Welt nicht mehr aufnehmen in die Stadt.

Insteadman hat noch eine reale Liebesbeziehung mit der Ghostwriterin Oona. Aber auch sie leidet unter der Unwirklichkeit: Insteadman darf nie zu Oona nach Hause, aus Gründen, die sich Insteadman und dem Leser erst spät offenbaren. Die Stadt erscheint als partieller Sperrbezirk, die die Wärme zwischenmenschlicher Beziehungen nicht mehr überall hineinlässt.

Auch der Popkultur ist in der "Chronic City" New York kein angenehmes Schicksal beschieden. Anders als die Liebe, die immerhin noch als Möglichkeit vorhanden ist, existiert sie nur noch als ferne Erinnerung. Perkus Tooth, der Kulturkritiker, markierte zu seinen Glanzzeiten New York mit handgemachten Collagen und Pop-Plakaten. Viele Jahre später, im Post-9/11-New-York, funktioniert das nicht mehr. Pop ist vorbei, der unendliche Spaß auch.

Lethem beschreibt eine verdrehte Welt. Sie ist fast so verdreht wie in David Foster Wallaces "Unendlicher Spaß", dem Lethem in "Chronic City" ein Denkmal setzt. Dort heißt ein Wälzer "Störrischer Staub", niemand schafft es, ihn zu Ende zu lesen.

Jonathan Lethem gilt, nach Wallace' Freitod vor drei Jahren, neben Jonathan Franzen als potenzieller Anwärter auf den Dichterthron. Lethem, der New Yorker, lebt mittlerweile im kalifornischen Claremont. Dort lehrt er als Wallace' Nachfolger Creative Writing am Pomona College. Was die Literarisierung gesellschaftlicher Zustände angeht und das postmoderne Spiel mit Symbolen, braucht Lethem den Vergleich mit Großmeister Wallace nicht zu scheuen. "Chronic City" ist ein komisches, schwer zu deutendes Buch, in dem nichts ist, was es zu sein scheint.