Hamburg. Über den Treppen des Henning-Voscherau-Platzes in der HafenCity treibt der Wind die Wolken über den Himmel. Hin und wieder blitzt die Sonne hindurch, wirft helle Flecken auf das dunkle Elbwasser. Möwen rasen schreiend über die Szenerie hinweg.
„Sie war schon vieles in ihrem Leben. Bankkauffrau, Ehefrau, Mutter, Floristin, Café-Besitzerin, Supermarktkassiererin. Morgen wird sie Mörderin.“ Mit diesen Sätzen beginnt der Kriminalroman „Die stille Mörderin“ des Hamburger Autors Thorsten Kirves. Es ist nach „Der Aussteiger“ sein zweiter Roman.
Thorsten Kirves sitzt auf den Stufen in der HafenCity, er kennt dieses Wetter, er ist ein Kind der Nordsee, vor 60 Jahren in Wilhelmshaven geboren. „Wenn ich an die Nordsee fahre, habe ich nach ein paar Stunden das Gefühl, dass ich meine Akkus aufgeladen habe. Das macht etwas mit mir, wahrscheinlich, weil ich schon als Baby diese Luft eingeatmet habe. Ich kann dort klare Gedanken fassen und Entscheidungen treffen, gerade auch, wenn ich in einer persönlichen Krise stecke.“
Hamburger Kriminalroman: Die Spur führt von der HafenCity bis ins Ruhrgebiet
Auch Kirves’ Protagonist, Kommissar Tom Simon in „Die stille Mörderin“, treibt eine Krise um. Auch er sucht Klarheit und innere Ruhe an der Nordsee. Simon plagt die Sorge um seinen Zwillingsbruder Marco, der untergetaucht ist, weil ihm der Mord an einem V-Mann vorgeworfen wird. Zwar glaubt der Kommissar nicht, dass sein Bruder ein Mörder ist, hat aber nagende Zweifel, denn frei von Schuld ist Marco gewiss nicht.
Doch erst einmal hat Tom Simon andere Sorgen, er muss gemeinsam mit seiner Kollegin Katja den Mord an einem rechtspopulistischen Bestsellerautor aufklären. Ein verzwickter und dramaturgisch von Kirves so raffiniert wie spannend ersonnener Fall. Hat die verschwundene Supermarktverkäuferin etwas mit dem Mord zu tun? Oder gar Toms Bruder Marco? Ein Motiv, so scheint es, hätte auch er. Die Spur führt die beiden Ermittler schließlich von Hamburg und der HafenCity bis ins Ruhrgebiet in die Nähe von Duisburg.
„Die stille Mörderin“: Thorsten Kirves’ Weg führte erst spät zum Kriminalroman
Thorsten Kirves’ Weg hingegen führte erst spät zum Kriminalroman. Gleichwohl hatten ihn schon früh Polizei- und Gangstergeschichten begeistert, anfangs vor allem die filmisch erzählten. Klassiker etwa wie jene von Jean-Pierre Melville, „Der eiskalte Engel“ oder „Vier im roten Kreis“. „Dieses archaische Schema vom Jäger und vom Gejagten, vom Kommissar, der besessen sein Ziel verfolgt, das hat mich immer fasziniert“, erzählt Kirves. Auch deshalb, weil in diesen Geschichten manchmal die Grenzen verschwimmen zwischen Schwarz und Weiß, zwischen Gut und Böse, weil sich Abgründe auftun, auch bei den Guten, sich Brüche zeigen in den Figuren.
Alles begann beim NDR. „Damals war ich knapp 20 und hatte das Glück, dort ein Praktikum zu bekommen, beim ,Tatort’ als Materialassistent in der Abteilung Kamera.“ Danach ging es weiter Richtung Film, beim Filmkopierwerk Atlantik kam ein weiteres Praktikum hinzu. „Später hat sich ein Kontakt zu Sat.1 ergeben, als sie in Hamburg angefangen haben. Dort habe ich meine ersten Schritte als Kameramann gemacht.“ Und 1995 stand Kirves bei Fatih Akins erstem Kurzfilm „Sensin – Du bist es!“ hinter der Kamera.
Der Kriminalautor arbeitet auch als Regisseur, etwa für Ikea und die Telekom
Irgendwann reichte es ihm nicht mehr, lediglich Bilder zu machen, er wollte Geschichten erzählen. Heute arbeitet er als Regisseur, überwiegend im Bereich Werbe- und Imagefilm, für die Telekom etwa, für Ikea oder für Stiftungen. Und natürlich als Romanautor.
Der Wechsel vom erzählenden Film zum Roman erfolgte auch wegen der größeren künstlerischen Freiheit. „Die Freiheit, die ich beim Schreiben habe, allein mit dem Text und meinen Figuren zu sein, diese Freiheit ist kaum irgendwo zu finden. Das ist etwas Besonderes. Dabei ist es mir wichtig, dass meine Figuren authentisch sind, dass sie ihre Handlungen glaubwürdig aus sich heraus entwickeln.“
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Im Verhältnis der Brüder Tom und Marco zueinander ist es Kirves, dem Einzelkind, auf ungemein sensible Weise gelungen. Hat er sich jemals einen Bruder gewünscht? Thorsten Kirves blickt in seine Handinnenflächen, hält einen Moment inne. „Ich habe wirklich nie darüber nachgedacht, ob ich gern einen Bruder gehabt hätte.“ Ein Bruder habe ihm nie gefehlt. Allerdings würde er zwei eineiige Zwillingsbrüder kennen. Und es sei absolut faszinierend, wie eng das Band zwischen diesen Brüdern sei. Das habe sich tief bei ihm eingeprägt, wie ihn überhaupt das Verhältnis zwischen Brüdern immer beschäftigt habe, räumt er ein. „Vielleicht ja doch, weil ich keinen Bruder habe …“
Tief hängen mittlerweile die Wolken am Himmel über der HafenCity. Der Wind geht, die Möwen schreien. Die Nordsee ist weit.
Der Autor liest am 10.11. beim Hamburger Krimifestival auf Kampnagel. Der Vorverkauf für das Festival beginnt am 25. August
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