Hamburg. Die Bühne ist ein verzauberter Ort, an dem andere Gesetze gelten als in der realen Welt – das ist eine Weisheit, die man im ersten Semester Theaterwissenschaft lernt. Carolin Jüngst und Lisa Rykena aber nehmen sie ernst, todernst.
In ihrer Choreografie „Sense of Wonder“ bewegt sich das Hamburg-Münchner Tanzduo auf Kampnagel gemeinsam mit Sarah Lasaki und Andromeda Gervasio durch einen Raum, an dem tatsächlich andere Gesetze gelten, an dem die Zeit mal verlangsamt abläuft, mal schneller, an dem die Schwerkraft sich plötzlich umdreht und an dem die Beine unvermittelt im Boden zu versinken drohen.
Tanz-Premiere: Nichts ist, wie es scheint, alles kann Gefahr sein oder Verheißung
„Sense of Wonder“ ist eine Expedition durch die „Zone“, eine „Welt der diskontinuierlichen Erfahrungen, der Unvorhersehbarkeit und einer zirkulären Zeit“, so der Programmzettel. Für die Expedition heißt das, dass aus Schritten Tänze werden und aus sicherem Boden Fallen. Nichts ist, wie es scheint, alles kann Gefahr sein oder Verheißung.
Aber: Wo neue Regeln gelten, kann man sich auch auf diese einstellen, man muss nur aufmerksam sein. Wenn ein Körper versinkt, dann hebt ein weggeworfener Karabiner den Zauber auf, stellt man nach einer Weile fest, also fliegen Karabiner durch die Luft, als Gervasio feststeckt. Die Expedition durch „Sense of Wonder“ ist auch eine Übung in Solidarität.
Kampnagel: Jüngst und Rykena ließen sich eindeutig von einem Filmklassiker inspirieren
Der Begriff der „Zone“ taucht schon in Andrei Tarkowskis Filmklassiker „Stalker“ (1979) auf: Auch hier wird eine Welt beschrieben, die von Anomalien durchzogen ist und die man auf Expeditionen durchstreift. Im Mittelpunkt von Tarkowskis „Zone“ befindet sich ein Raum, in dem einem die geheimsten Wünsche erfüllt werden – Anlass zu tiefen philosophischen Überlegungen, die im Kontrast stehen zu den realen Gefahren der Umgebung.
Jüngst und Rykena ließen sich eindeutig von „Stalker“ inspirieren, allerdings sind die Gefahren in „Sense of Wonder“ übersichtlich: Wenn ein Protagonist der Zone zum Opfer fällt, geht die Geschichte von vorne los, und das Quartett sammelt sich wieder in der Raummitte, unter Lea Kissings beeindruckender Bühnenskulptur.
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Heißt aber auch: Die Fehler vom vorigen Mal werden auch in der Wiederholung gemacht. Wieder und wieder steckt Rykena den Kopf in ein leuchtendes Objekt, trotz der Warnungen ihrer Kollegen. Tja.
Kampnagel: „Sense of Wonder“ – wenn der Tanz sparsam und kompetent ist
Mit ihrer 2019er-Arbeit „She Legend“ feierten Rykena/Jüngst große Erfolge, wurden zu Festivals unter anderem in Wien, Berlin und Hongkong eingeladen. „Sense of Wonder“ wirkt nun wie eine Fortführung von „She Legend“ – wieder gibt es Anleihen bei Popkultur, Trash, Camp, wieder wird so sparsam wie kompetent getanzt, wieder schiebt eine bühnenprägende Skulptur den Abend sachte in Richtung Bildender Kunst.
Was neu ist: dass das Duo sich mittlerweile traut, nicht nur Situationen anzureißen, sondern tatsächlich etwas zu erzählen. Und nicht zu vergessen die Audiodeskription (für die die jüngst mit dem Deutschen Tanzpreis ausgezeichnete Sophia Neises verantwortlich zeichnet) – die hat mittlerweile einen ganz eigenen künstlerischen Wert.
„Sense of Wonder“ bis 27. Mai, 20.30 Uhr, Kampnagel, Jarrestraße 20, Tickets unter 27 09 49 49, www.kampnagel.de
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