Hamburg. Schon mit „Der Staat gegen Fritz Bauer“ und „Das schweigende Klassenzimmer“ setzte sich Lars Kraume mit deutscher Geschichte auseinander. Mit „Der vermessene Mensch“, auf der Berlinale uraufgeführt und ab diesen Donnerstag im Kino, geht er noch weiter zurück und erzählt vom Genozid an den Ovaherero und Nama in der einstigen Kolonie Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Ein wichtiger Film, der genau zur richtigen Zeit kommt, wo über die Rückgabe geraubter Kunstschätze diskutiert wird. Wir sprachen den Berliner Regisseur, kurz nachdem er von einer Kinotour in Namibia zurückgekehrt ist.
„Der vermessene Mensch“ wurde von Uwe Timm inspiriert
Endlich wird diese historische Schuld einmal aufgearbeitet. Wie kamen Sie darauf?
Lars Kraume: Ich war ein paar Mal in Namibia. Und ich habe Uwe Timms Roman „Morenga“ gelesen, der den Völkermord behandelt. Über diese Geschichte wurde noch nie ein Kinofilm gedreht, sie ist weitestgehend unbekannt. Deshalb wollte ich das Buch adaptieren, aber ich hatte mit dem fertigen Drehbuch ein Problem. Weil der Roman unter Soldaten spielt, hätte das viele Gewaltbilder zur Folge gehabt. Das wollte ich aber nicht, wegen der Re-Traumatisierung und permanenten Repetition weißer Gewalt gegen schwarze Menschen. Ich wollte es aber auch nicht negieren. So kam ich auf die Figur eines Ethnologen, der in die Kolonie reist, das Morden miterlebt und sich mitschuldig macht.
Warum hat es noch keinen Kinofilm über den Genozid gegeben? Ist das Scham? Oder Verdrängung?
Lars Kraume: Mehr Verdrängung als Scham. Die Deutschen hatten wohl genug mit der Aufarbeitung des Dritten Reichs zu tun. Das Thema ist noch immer viel zu unbekannt. Das fängt schon in der Schule an. Da wird sowieso viel zu wenig Geschichte gelehrt. Und über den Kolonialismus fast gar nichts. Bei Previews unseres Films gab es Leute, die noch nie von dem Völkermord gehört hatten. Oder dass es Konzentrationslager schon vor dem Holocaust gab.
Lars Kraume will Deutschland den Spiegel vorhalten
Ist ein solcher Film vermintes Gelände? Wo man alles falsch machen kann?
Lars Kraume: Wenn man sich als Erster an so ein Thema wagt, ist das etwas ganz anderes, als wenn es schon andere Filme dazu gibt. Vielleicht ist das ein wenig wie damals der US-Mehrteiler „Holocaust“, der das Eis brechen musste für eine Beschäftigung mit der Shoah, was damals im fiktionalen Erzählen noch gar nicht stattgefunden hatte.
Auf der Berlinale, wo Ihr Film Premiere hatte, fiel fast reflexartig der Einwand: Das ist die falsche Perspektive, das hätte man aus der Sicht der Opfer zeigen müssen. Aber genau das hätte man als deutscher Filmemacher erst recht nicht tun dürfen?
Lars Kraume: Dieser Film hält uns Deutschen einen Spiegel vor und betrachtet kritisch die von uns begangenen Gewalttaten. Ich verstehe nicht, was daran die falsche Perspektive sein soll. Und das ist doch ein interessanter Widerspruch: Natürlich müsste die Stimme der Opfer lauter sein als die der Täter. Aber wenn du als Deutscher die Geschichte der Opfer erzählen würdest, wäre das kulturelle Aneignung. Und machst du gar keinen Film darüber, machst du dich gemein mit all den Rassisten, die den Genozid seit 120 Jahren leugnen. In diesem Dreieck bist du verloren. Deshalb war es für mich so wichtig, dass ich erst mal nach Namibia gereist bin und mich mit Nachfahren der Opfer getroffen habe. Und die sahen das ganz anders. Sie freuten sich, dass die Deutschen ihre Geschichte nicht ganz vergessen haben und endlich anfangen, sich damit auseinanderzusetzen.
„Der vermessene Mensch“ thematisiert den Völkermord an Herero und Nama
Ihre Hauptdarstellerin Girley Jazama ist selbst eine Herero und war an der Entwicklung des Drehbuchs beteiligt. Und an Ihrem Film waren auch 2000 Namibier beteiligt.
Lars Kraume: Ja, das war uns ganz wichtig. Wir wollten nicht mit einem deutschen Team anrücken, unseren Film drehen und dann wieder wegfliegen. Wir wollten dieses Projekt dezidiert für einen kulturellen Austausch nutzen. Und diese verdrängte Geschichte zwar aus Täterperspektive erzählen, aber mit einer klaren Haltung für die Opfer.
Die Deutschen haben die Herero und Nama buchstäblich in die Wüste geschickt und auf alle geschossen, die von Brunnen trinken wollten. Stellten sich da dieselben Fragen wie bei einem Holocaust-Film: Wie soll, wie kann man das Morden in Szene setzen?
Lars Kraume: Wenn du das filmst, bist du wieder da, wo das Kino oft war: bei der Ausbeutung von Gewalt. Ich bin kein Fan solcher Filme. Es gibt ein paar Szenen. Mein Film sollte sich aber nicht daran laben. Ich kenne keine Antikriegs-, ich kenne nur Kriegsfilme. Ob sie dafür oder dagegen sind – sie zeigen und wiederholen die Gewalt. Und das wollte ich so wenig wie möglich machen.
Kraume will mit seinem Film das Publikum wachrütteln
Die Gesellschaft ist inzwischen beim Thema Raubkunst sensibilisiert. Vor allem, wenn es um die Restitution an jüdische Besitzer geht. Auch über die Benin-Bronzen wird viel diskutiert. Aber es gibt noch immer Tausende Schädel in ethnologischen Sammlungen. Verstehen Sie Ihren Film auch als Beitrag zu dieser Debatte?
Lars Kraume: Ich hoffe, dass der Film ein paar Publikumsschichten erreicht, die sich mit dieser sehr akademischen Diskussion nicht so beschäftigen. Die Debatte ist allerdings sehr komplex. Und es gibt da auch noch unglaublich reaktionäre Positionen: dass „diese Länder“ gar nicht mit ihren wertvollen Kunstschätzen umgehen könnten und gar keine Museen dafür hätten. Das ist auch wieder eine sehr eurozentrische Sicht. Wir haben einfach ein sehr grausames Erbe. Und eine große Verantwortung. Wir müssen diese Kunstschätze zurückgeben. Und im Zweifel auch gleich, wie in Nigeria, das Museum dazu bauen. Die französische Kulturministerin sagte mir, es wird in Frankreich vermutlich eine Gesetzesänderung geben, weil sie dort ein Verfassungsproblem mit der Restitution haben. Wir Deutschen aber haben es geschafft, das sinnlose Schloss des Kaisers wieder aufzubauen, um darin unsere Beutekunst zu zeigen. Das ist absurd.
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Sie sind gleich nach der Berlinale nach Namibia gereist, um Ihren Film auf einer Tour zu zeigen. Wie waren die Reaktionen?
Lars Kraume: Ich zeige Filme sonst auf Festivals. Das hier war aber wohl die interessanteste Reise, die ich je mit einem Film gemacht habe, denn in Namibia gibt es fast keine Kinos. Und wenn die Leute da mal im Kino sind, sehen sie keine Filme, die mit ihnen zu tun haben. Wir sind mit Jeep, Leinwand und Projektor durchs Land gefahren und haben den Film in Gemeindehäusern oder Open-Airs gezeigt. Und es war immer sehr emotional. Erst waren die Leute skeptisch: Was haben die Deutschen daraus gemacht? Aber danach waren sie überzeugt, dass das ein wertvoller Beitrag für ihre verdrängte, vergessene Geschichte ist.
„Der vermessene Mensch“ wurde auch Bundestagspolitikern gezeigt
Sie haben den Film danach auch Politikern im Bundestag gezeigt.
Lars Kraume: Ich fürchte, die meisten Politiker denken, die Herero und Nama sind nur marginale Randgruppen. Vor zwei Jahren gab es fast eine Einigung auf ein Reparationsabkommen, das dann aber durch Corona zum Erliegen kam und bis jetzt nicht ratifiziert wurde. Auch 30 Jahre nach der Unabhängigkeit Namibias und 120 Jahre nach diesen Gräueltaten ist noch immer kein Bundespräsident nach Namibia gereist und hat um Entschuldigung gebeten. Und noch immer stehen Reparationszahlungen und die Rückgabe gestohlener Artefakte aus. Das ist unser Erbe. Wir müssen einen Weg finden, wie wir mit diesen Ländern in Zukunft zusammenkommen. In Afrika ist ja schon wieder ein ganz anderer Kolonialismus seitens Chinas zu sehen.
Bei den Vornominierungen zum Deutschen Filmpreis wurde Ihr Film übergangen. Frustriert das eigentlich?
Lars Kraume: Diese Vorauswahl finde ich natürlich sehr enttäuschend. Unser Produzent Thomas Kufus ging ein unglaubliches persönliches Risiko ein, um diese unerzählte Geschichte zu produzieren. Und dann kommt eine Vorauswahljury und sagt: So nicht. Der einzige Grund kann nur sein, dass sie denken, es ist die falsche Perspektive. Aber damit strafen sie ja nicht nur mich als Drehbuchautor ab. Dann kann Girley Jazama nicht mehr als beste Nebendarstellerin nominiert werden, Jens Harant nicht für seine grandiosen Kamerabilder, Thomas Kufus nicht als Produzent. Das mache ich nicht mit. Ich werde jetzt nicht unter Protest aus der Akademie austreten, aber ich will eine Diskussion darüber. Die Preise sind mir egal, aber wenn die Filmakademie über diesen Film nicht diskutiert, dann macht sie das, was die Rassisten seit 120 Jahren erfolgreich tun: schweigen.
Am 3. April kommt Lars Kraume zur Filmvorführung ins Zeise und diskutiert mit der Ethnologin und MARKK-Direktorin Barbara Plankensteiner. 19.30, Tickets zu 11,- unter www.zeise.de
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