Wie gründlich Deutschland seine Vergangenheit als Kolonialmacht verdrängt hat, zeigt sich augenöffnend darin, dass Lars Kraumes „Der vermessene Mensch“ der erste Spielfilm sein soll, der sie thematisiert. Wer das mit der Tatsache entschuldigen will, die Kolonialmachtszeit sei lange her und vielleicht gar nicht so prägend gewesen, muss nur einen Blick in Berliner Museen werfen. Nicht nur in den zuletzt viel diskutierten Sammlungen der alten Völkerkunde-Abteilungen, sondern auch unter den scheinbar unverfänglichen, ungeheuer populären Objekten wie den Dinosaurier-Skeletten im Naturkundemuseum hat sich der deutsche Kolonialismus sehr wohl und prägend niedergeschlagen.
Genau deshalb leuchtet es unmittelbar ein, dass Kraume einen Wissenschaftler zum Protagonisten seines Films macht. Der junge Ethnologe Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher), der sich im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts um eine akademische Karriere bemüht, ist neugierig auf die Welt, glaubt an die Objektivität seiner Wissenschaft und hält sich für aufgeklärt: Was man durch Messungen beweisen kann, das gilt. Und wer etwas über den Menschen und seine Kultur erfahren möchte – legt das Lineal an seinem Schädel an.
„Der vermessene Mensch“ ist der erste Film über den Völkermord an den Herero und Nama
Die „Berliner Kolonialausstellung“, auf der Kraume seinen Protagonisten erstmals mit „Objekten“ seiner Forschung zusammenbringt, gab es tatsächlich. In Kulissendörfern im Treptower Park wurden 1896 Frauen, Männer und Kinder aus deutschen Kolonien genötigt, vermeintlich „eingeborenes“ Leben nachzustellen. Das heute nachzuinszenieren ist kaum mehr möglich – nicht, weil es an filmischen Mitteln dazu mangeln würde: Das rassistische Arrangement einer solchen Schau zu wiederholen, wäre für alle Beteiligten, den Zuschauer mit eingeschlossen, unzumutbar. Die tableauhaften Einblicke, die Kraume in seinem Film gewährt, lassen bereits zusammenzucken.
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Zu der Gruppe der Herero, die sich die Untersuchung gefallen lassen müssen, gehört die des Deutschen mächtige Übersetzerin Kezia (Girley Charlene Jazama), die sofort Hoffmanns Interesse weckt. Der Akt des Vermessens wird für den jungen Mann zu einer Lektion der anderen Art. Der eifrige Wissenschaftler begreift, dass ein „Es tut nicht weh“ nicht ausreicht, um die Demütigung dieser Messung zu lindern. Sein Anpreisen von Kezias offensichtlicher Intelligenz ist durchdrungen von rassistischen Annahmen. Aber er träumt davon, sie wiederzusehen. Als Wissenschaftler gesucht werden, die im Tross des deutschen Militärs in Afrika Schädel und andere Artefakte sammeln sollen, meldet er sich freiwillig.
Indem er mit dem Kitsch-Motiv spielt, dass da ein weißer Mann durch die Begegnung mit einer schwarzen Frau seine Vorurteile überwindet, macht Kraume die Tragödie umso effektiver. Denn es passiert das Gegenteil: Hoffmann wird Zeuge des Genozids der Deutschen an den Herero und Nama. Seine Unfähigkeit, einzuschreiten, sein schäbiges Auftreten angesichts des Grauens entschuldigt er als nötiges Opfer für die Wissenschaft. Gerade weil er kein „Täter“ im eigentlichen Sinn ist, sondern ein Mitläufer, gelingt Kraume mit dieser Figur ein starkes
Porträt jener verheerenden Wissenschaftstradition, die dem deutschen Faschismus Vorschub leistete.
„Der vermessene Mensch“, ab 12 J., 116 min., im Abaton, in der Koralle und im Zeise
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