Hamburg. 500 Welturaufführungen: Das muss dem Quatuor Bozzini erst einmal jemand nachmachen. Schon wenn es um die reine Arbeitsleistung geht, ist das kanadische Quartett, das 1999 gegründet wurde, beispiellos. Zeit haben Clemens Merkel (Geige), Alissa Cheung (Geige), Stéphanie Bozzini (Bratsche) und Isabelle Bozzini (Cello) also nicht zu verlieren, weshalb das Interview zu ihrer Residenz beim Hamburger „klub katarakt“-Festival direkt nach dem frühen Hotel-Frühstück stattfindet – es gibt ja noch so wahnsinnigviel zu tun.
Zum Beispiel weitere Proben für Stücke von Komponistinnen und Komponisten wie James Tenney, Nicole Lizée und James O’Callaghan, die bei insgesamt vier Auftritten erklingen. Namen, die den meisten Konzertgängern nichts sagen dürften. Namen aus der Neuen Musik, die man gemeinhin nicht mit dem Repertoire eines Streichquartetts verbindet. Doch die Wiederholung des Ewiggleichen von Beethoven bis Bartók, von Mozart bis Schostakowitsch ist für Quatuor Bozzini uninteressant. „Wir möchten nicht in einem Musik-Museum leben“, sagt Clemens Merkel und meint damit: Warum ein Stück spielen, das schon unzählige Male überall auf der Welt gespielt wurde, wenn es ständig so viel Neues gibt?
„klub katarakt“: So aufregend kann Neue Musik sein
Man wolle aktiv mitgestalten, ergänzt Isabelle Bozzini, und arbeite deshalb sehr eng mit Komponistinnen und Komponisten zusammen, erteile auch immer wieder Kompositionsaufträge und fördere den Nachwuchs mit speziellen Workshops. Wie das Ergebnis klingt, ist auf mehr als 30 CDs des Quartetts zu hören. Mal steht das dort zu Hörende recht deutlich in einer klassischen Streichquartett-Tradition, dann wieder gibt es ausufernd lange Klangfläche aus gehaltenen und nur minimal veränderten Tönen, oder die Stücke sind extrem rhythmisch und erzählen wie bei Ana Sokolovićs „Short Stories“ tatsächlich kleine Geschichten.
Es ist ein faszinierender Klangkosmos, der sich ausbreitet, wenn man in das Œuvre des Quatuor Bozzini eintaucht. Und eintauchen muss man – nebenbei hören lässt sich diese Musik nicht. Dazu ist sie zu komplex, auch zu interessant mit all den sich verzweigenden Wegen, die sie einschlägt. Da braucht es die volle Konzentration, und im Idealfall hört man so etwas live und erlebt die Interaktion der perfekt aufeinander eingestellten Musikerinnen und Musiker.
Ohne dieses Ensemble würde vieles nie gespielt, wäre nie auf CD zu haben
Die haben sich früh gegen gesicherte Existenzen im Musikgeschäft und für das Abenteuer entschieden. Alissa Cheung verließ sogar eine feste Orchesterstelle, um bei Quatuor Bozzini einzusteigen. „Da gibt es keinen Weg mehr zurück“, sagt Clemens Merkel lachend. Doch im Gespräch wird deutlich, dass für die vier auch gar nichts anderes infrage käme. Zu sehr lieben sie den Austausch mit den Komponisten, mit denen sie häufig die Werke gemeinsam erarbeiten. Nicht als stumme Diener derer, die die Musik schreiben, sehen sie sich, sondern als gleichberechtigte Partner. Und Quatuor Bozzini hat ja auch einiges zu bieten: Ohne dieses Ensemble würde vieles nie gespielt, wäre nie auf CD oder als Download zu bekommen.
Dass ein Tonträger häufig nur eine Momentaufnahme sein kann, liege in der Natur der Sache, sagt Stéphanie Bozzini. Für das Stück „Occam Delta XV“ der legendären Éliane Radigue (90), einer Wegbereiterin der elektronischen Musik, gebe es beispielsweise keine genau gegebene Notation, nur eine grundsätzliche Struktur. Wenn es am 19. Januar auf Kampnagel zu hören ist, dann als Annäherung.
Immerhin: Éliane Radigue ist so bekannt, dass ihre Werke überall auf der Welt gespielt werden. Vieles, was ansonsten beim „klub katarakt“-Festival zu hören ist, gibt es nur hier – und dann vermutlich nie wieder. Doch nicht nur deshalb ist dieses viertägige Festival so wichtig. Es bereitet auch seit bald 20 Jahren gemeinsam mit dem ebenfalls alljährlichen „blurred edges“-Festival in Hamburg den Boden für Neue Musik, gibt Künstlerinnen und Künstlern Spielräume, die notwendig sind, um die Szene nicht nur am Leben zu erhalten, sondern weiterzuentwickeln. Grundlagenarbeit ist das, die sich langfristig auch auf Neue-Musik-Programme in der Elbphilharmonie auswirkt, die dann ein Massenpublikum erreichen. Unvergessen etwa die drei Tage zu Ehren des griechischen Komponisten Iannis Xenakis (1922–2001), dessen komplexe Werke 2019 im ausverkauften Großen Saal des Konzerthauses frenetisch gefeiert wurden. Vor diesem Hintergrund nachvollziehbar, dass die „klub katarakt“-Macher enttäuscht sind, dass ihre Förderung durch die Kulturbehörde von aktuell 55.000 Euro auf 42.000 Euro im kommenden Jahr gesenkt wurde.
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Denn natürlich spielt auch bei bedeutender Kunst das Geld eine wichtige Rolle. Die Bozzinis wissen das sehr genau und haben in dieser Hinsicht viele Standbeine. Da sind natürlich die zahlreichen Festivaleinladungen (von Hamburg aus geht es direkt nach Island zu den „Dark Music Days“), aber auch staatliche Förderungen etwa durch das Canadian Arts Council und Lehraufträge von Universitäten, an denen die Musikerinnen und Musiker Workshops geben. Ein bequemes Leben sieht anders aus, aber bequem wollen es diese vier ja gar nicht haben, sondern lieber intensiv und immer wieder aufregend. Auch aus den Corona-Lockdowns haben sie das Beste gemacht und, wie Alissa Cheung sagt, „sehr konzentriert und mal ohne das ständige Reisen in Ruhe gearbeitet“.
Bei 500 Welturaufführungen, so viel ist klar, soll nämlich noch lange nicht Schluss sein.
„klub katarakt“ 18. bis 21.1., Kampnagel, Infos und Karten: klubkatarakt.net Quatuor Bozzini: quatuorbozzini.ca
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