Hamburg. Vor dem Experiment hatte man den Intendanten Markus Hinterhäuser für verrückt erklärt und über die Salzburger Festspiele als Superspreader-Event orakelt. Rund 80.000 Menschen besuchten trotz der Pandemie das berühmteste Klassik-Festival der Welt – und es passierte: nichts.
Inzwischen gibt es einen Spielplan für Sommer 2021, und Hinterhäuser hofft und plant erneut und nach wie vor, angetrieben von trotziger Hoffnung, am Laufen gehalten aber auch von Espresso und Zigaretten. Ein Gespräch über Kultur und Corona, über Sehnsüchte, Ängste, Verlust und Aura.
Hamburger Abendblatt: Im letzten Juni haben Sie mir gesagt: „Ich bin auf eine sehr rationale Weise sehr guten Mutes, dass wir das über die Bühne bringen. Vielleicht schaffen wir das.“ Jetzt haben wir Frühjahr 2021, wie ist Ihre Stimmungslage?
Markus Hinterhäuser: Im Vergleich zum letzten Frühling ist sie ein bisschen angespannter. Ich hab‘ das Gefühl, dass wir jetzt in einer Situation sind, die herausfordernder ist als im letzten Frühjahr. Ich habe nicht mehr diesen rationalen Optimismus. Ich bin sehr skeptisch. Wir haben mit diesem Virus zu leben, wir werden lange mit diesem Virus leben, und es gibt eine Chance, die wir jetzt haben: Das ist die Impfung. Die hat uns allen Mut gemacht. Das logistische Desaster ist schon ziemlich vergleichslos.
Sie leiten das größte, wichtigste, bekannteste Klassik-Festival der Welt. Sie sind also viel zu groß und viel zu wichtig, um einfach einzugehen. Aber nichtsdestotrotz stehen Sie auch relativ nah an der Wand. Was befürchten Sie für die Branche unterhalb der Flughöhe der Salzburger Festspiele?
Hinterhäuser: Die schiere Größe und Bedeutung der Festspiele geben einen gewissen Schutz, aber wenn Mittelbau und Unterbau nicht mehr existieren, wird das Obere auch wegbrechen, das ist ganz klar. Wir haben eine Situation, in der alles, was mit Geist und Kultur zu tun hat, entweder infrage gestellt wird oder in einer Art und Weise behandelt wird, dass man von einer veritablen Gefahr sprechen muss. Wenn wir jetzt sehen, wie viele Musiker auf dem freien Markt sind, die wirklich nicht mehr arbeiten können, die davon abhängig sind, dass dieser Markt irgendwie funktioniert. Wenn wir über Veranstalter sprechen, die in Not sind. Über Agenturen, die eine Mittlerfunktion haben. Wenn wir über allgemeines Bewusstsein sprechen. Dass wir erkennen müssen, dass vielleicht gar nicht wenige Menschen aufwachen, sich die Augen reiben und sagen: War da etwas? Gab es da ein Opernhaus, irgendwo, sagen wir in Rostock? Haben wir es vermisst? Wir ja – aber viele Leute werden es gar nicht vermisst haben. Die Folge davon ist, dass wir auf das eine oder andere verzichten werden müssen. Diese Unmengen an Geld, die jetzt in die Hand genommen werden, das muss zurückkommen. Da gibt es wenige Möglichkeiten. Eine der Möglichkeiten werden Kürzungen in jedem Lebensbereich sein, und diese Kürzungen werden bestimmt vor der Kultur nicht haltmachen. Da kommt einiges zusammen, was ich mit der allergrößten Sorge betrachte.
Was steht deswegen als Nächstes an?
Hinterhäuser: Auch die Frage: Wie viel Kultur müssen wir uns leisten? Unsere DNA hat mit der Kultur zu tun, die wir vertreten. Wir müssen uns klar sein: Was wir einmal verlieren, werden wir nicht wiederbekommen.
Viele Menschen stehen vor großen Problemen. Für die ist die Frage „Sind wir noch Kulturnation oder nicht?“ relativ unerheblich. Die interessiert auch nicht, ob bei Ihnen eine Beethoven-Sonate gut gespielt wird.
Hinterhäuser: Das ist eine Argumentation, gegen die ich gar nichts sagen kann, ich verlange auch nicht ein ähnliches Interesse an diesen Dingen, dass ich und viele andere aufbringen. Aber ich verlange trotzdem ein Erkennen der Wesentlichkeit dieser Dinge. Einen Lebensbereich gegen den anderen aufzuzählen oder auszuspielen, das wird nicht funktionieren. Aber wir sprechen hier über Dinge, die in anderen Bereichen mit Testung funktionieren. Niemand kann mir erzählen, dass man sich in einem Saal wie dem Großen Festspielhaus mit einem sehr klugen Sicherheitskonzept unsicherer fühlen muss als in einem Flugzeug. Es sind 80.000 Menschen hier ein- und ausgegangen. Wir haben bewiesen, dass es geht. Wir haben eine Solidarität geschaffen, zwischen Festspielen, Publikum und Künstlern.
Im letzten Sommer war das eine Einmaligkeit. Jetzt müssen Sie sich aus der unschönen Situation bewegen, dass man ein Jahr später an vielen Stellen – vorsichtig ausgedrückt – vielleicht etwas klüger ist. Aber auch nicht unbedingt. Dass diese Herausforderungen in der zweiten Runde wieder anstehen, muss unglaublich frustrieren.
Hinterhäuser: Ich bin nicht frustriert. Ich bin skeptischer und ernüchtert, weil das, was wir letzten Sommer gezeigt haben, so gut wie keine Konsequenzen hatte.
An vielen Stellen scheint inzwischen die Stimmung zu sein: Kunst ist schön, wenn es geht. Aber wenn nicht, ist das auch okay.
Hinterhäuser: Wenn man nicht bereit ist, die Wesentlichkeit von Kultur anzuerkennen, dann sollte man anerkennen, dass es auch um sehr profane Dinge geht. Es geht auch um Arbeitsplätze. Diese Arbeitsplätze sind genauso wertvoll wie die im Drogeriemarkt oder einer Fluggesellschaft, das muss man wenigstens respektieren.
Ein Zitat des Komponisten Edgar Varèse: „Imagination gibt den Träumen Form.“ Das ist poetisch, aber momentan kommt man damit nicht weiter, obwohl vielleicht für diese Gesellschaft das Träumendürfen wichtiger ist als anderes. Diese Art von Verlust wird nicht nur kurzfristig Probleme bereiten.
Hinterhäuser: Die wird entscheidende Auswirkungen haben. Wir müssen sehr achtsam sein mit dem, was wir haben, wir haben unendlich viel. Ich glaube, der Verlust an Kunst und Kultur wird einschneidende Konsequenzen in einem gesellschaftlichen Zusammenhalt haben. Ich bin Intendant der Salzburger Festspiele. Ich bin Pianist, ich bin Musiker, also habe ich auch ein hohes Maß an Solidarität mit den Menschen, von denen ich viele auch persönlich kenne.
Ein großer Teil ihres Tagesgeschäfts wird jetzt wahrscheinlich sein, Künstler zu trösten, der Kummerkasten-Onkel zu sein und nicht über Programmideen zu reden – wobei bei Ihnen eher nicht der junge Pianist auftritt, der am Anfang der Karriere ausgebremst wird.
Hinterhäuser: Ich habe auch mit sehr vielen Künstlern zu tun, die am Existenzminimum stehen, mit kostbarsten Ensembles, die wirklich an der Kippe sind. Was kann ich für die machen? Ich kann jetzt auch nicht mehr machen, als sie verstärkt einzuladen. Was ich tue, um sie zu unterstützen. Es geht hier nicht nur um die Spitze der Künstler. Und: Die Salzburger Festspiele sind kein hochsubventioniertes Unternehmen. Die Subventionen machen nicht einmal ein Viertel des Etats aus, wir sind extrem abhängig vom Kartenverkauf. Fast 70 Prozent müssen wir verkaufen, sonst bekommen wir ganz große Schwierigkeiten.
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Wie ist das Interesse des Publikums für diesen Sommer?
Hinterhäuser: Absolut ungebrochen, ein riesiges Interesse. Wir haben überhaupt kein Problem, was die Kartenvorbestellung betrifft. Die Festspiele werden stattfinden. Sie werden stattfinden. Wie genau, das kann ich jetzt nicht sagen. Und was macht ein Intendant die ganze Zeit? Trost. Da gibt es auch sehr mechanische Fragen. Ich habe im Frühsommer letzten Jahres einen Verschiebebahnhof angeworfen und bin absolut nicht bereit, Dinge wegzuwerfen, weil sie nicht stattgefunden haben.
Wird es bei dem Sitzplan wieder auf Schachbrettmuster hinauslaufen?
Hinterhäuser: Wahrscheinlich, das hat sich bewährt. Wenn der Impfprozess dynamisch genug ist, wird man da eine gewisse Beruhigung sehen und diese Beruhigung wird vielleicht auch zu mehr führen können.
Normalerweise würde man sich sagen: Wenn ich Intendant der Salzburger Festspiele bin, bin ich so was von auf der sicheren Seite. Alles andere geht vielleicht den Bach hinunter, doch ich ganz bestimmt nicht. Nun ist das ins Wackeln geraten. Was macht das mit dem Selbstverständnis als Intendant? Sie sind ja auch noch Pianist, also doppelt existenziell verunsichert?
Hinterhäuser: Ich mich fühle mich existenziell nicht verunsichert. Die Situation verunsichert mich in dem Sinn, dass ich eine perspektivische Planung kaum mehr machen kann. Die Politik kann gar nicht anders, als sehr kurzfristig zu reagieren – wir können gar nicht anders, als große Produktionen perspektivisch zu planen. Es gab eine einzige Ausnahme: die „Così fan tutte“, hineingeweht, unerwartet, leicht, schwerelos. Ich werde nie mehr in der Lage sein, in fünf Wochen eine Opernproduktion zu machen. Das war das einzige Geschenk, das Corona uns gemacht hat. Das ist nicht wiederholbar.
Und wie geht es Ihnen damit?
Hinterhäuser: Es ist eine sehr wenig inspirierende Zeit. Ich als Person bin extrem abhängig davon, dass ich Menschen treffe, dass ich ins Gespräch komme, dass sich Dinge durch Produktionen, durch Gespräche weiterentwickeln. Das ist alles nicht möglich, ich finde diese Wochen und Monate sehr ermüdend, wenig vitalisierend. Die Tage plätschern hin, man versucht Feuerwehr zu sein.
Playlist
- Die „Wilhelm Kempff Edition“ (DG, 80-CD-Box): „Ganz große Klavierkunst!“
Momentan hat man noch nicht mal die kulturelle Grundversorgung. Festspiele sind per se Kirschen auf der Torte – es gibt momentan aber nicht mal Schwarzbrot. Haben sich Festspiele überlebt, weil Grundversorgung wichtiger ist?
Hinterhäuser: Die Frage ist durchaus nachvollziehbar, nur: Die Festspiele haben sich überhaupt nicht überlebt. Die werden nicht totzukriegen sein durch eine Pandemie, die wir irgendwann in den Griff bekommen werden. Aber im System ändert sich unendlich viel. Man wird sich Gedanken machen müssen: Was sind Festspiele, wofür sind sie da? Diese Fragen haben viel mit Systemfragen zu tun. Wir müssen uns befragen. Das Fest wie das Spiel sind undenkbar ohne Nachdenken, es ist ein Nachdenken über die Welt.
Was wird mit der Aura von Kunst? Vor Frühjahr 2020 hatte Kunst große Selbstgewissheit. Sie sagte: Ich bin nicht die Realität, ich bin etwas anderes. Jetzt aber – wenn es wieder so sein wird – kommt Kunst lädiert und kleinlaut durch eine Seitentür und sagt: Ich weiß auch nicht mehr, ich bin so müde. Ich hab‘ keine Ahnung mehr, wofür ich da bin.
Hinterhäuser: Da bin ich nicht Ihrer Meinung. Kunst ist ja nicht Eskapismus, überhaupt nicht. Jedes große Kunstwerk ist in sozialen und politischen Zusammenhängen entstanden, und das ist nicht davon zu trennen. Die Frage ist: Was machen wir heute damit? 2014 war ich Intendant der Wiener Festwochen und hab‘ dort mit Romeo Castellucci „Orpheus und Eurydike“ gemacht …
… mit einer Wachkoma-Patientin als Eurydike auf der Bühne …
Hinterhäuser: … mehr Realität geht nicht. Das war das Radikalste, was ich bis jetzt erlebt habe auf einer Opernbühne. Da ist jemand an die Wurzeln gegangen, an das absolut Elementare einer vergleichslos schönen mythischen Erzählung. Und das war der Einbruch der Realität in diesem Moment, wo 2000 Besucher auf eine unfassbar intensive Weise mit der Realität konfrontiert wurden. Das hat nichts mit Eskapismus zu tun gehabt. Kunst hat verdammt viel mit der Welt zu tun. Sie hat alles mit der Welt zu tun. Warum sind wir, woher kommen wir, wohin gehen wir? Ich will keine Tagespolitik auf der Bühne haben, das ist mir zu wenig. Ich brauche eine andere Fallhöhe. Die bietet mir die Kunst. Es gibt einen Satz von Paul Valéry: Das Gedächtnis erwartet die Intervention des Gegenwärtigen.
Also ist Musik nie nur Musik? Die ersten Akkorde einer Beethoven-Sinfonie sind eine ganze Welt, und bei Festspielen ist Musik erst recht nicht nur Musik?
Hinterhäuser: Es geht nicht um Festspiele, es geht um die Möglichkeiten, die uns Musik bieten kann, die uns eine Mahler-Sinfonie bieten kann. Was bedeutet das, wenn Menschen in einem Saal sitzen und den „Kindertotenliedern“ zuhören? Darin reflektiert Mahler über den Tod des eigenen Kindes, etwas Schlimmeres kann einem im Leben nicht passieren. Können wir das überhaupt schaffen, diese Wesentlichkeit zustande zu bringen? Die Mitteilung, die Mahler dort macht: „Nun will die Sonn‘ so hell aufgeh’n, als sei kein Unglück die Nacht gescheh’n!“ Das gehört zum Erschütterndsten, was man überhaupt von jemandem mitgeteilt bekommt… Wenn ich mich mit mir darauf einigen würde, dass das, was ich mache, eine numerische Aneinanderreihung von Veranstaltungen ist, wüsste ich nicht, was ich da soll.
Können Menschen verlernen, Kultur vermissen zu wollen, Kultur lieben zu können?
Hinterhäuser: Es gibt eine unendlich große Sehnsucht danach: wieder etwas zu erleben, und zwar in der Gemeinschaft zu erleben. Wir können alle vor einem Bildschirm sitzen und eine Oper anschauen oder ein Konzert anschauen. Das ersetzt diesen wirklich unfassbar kostbaren und einzigartigen Moment nicht, dass sich Menschen zusammenfinden, um ein Streichquartett zu hören. Dieser Moment ist der entscheidende Moment. Weil im Idealfall etwas entsteht, wo ein Saal, eine Gemeinschaft plötzlich ein einziges Lauschen wird. Und das ist großartig. Das ist das Schönste, was man erleben kann. Kunst hat mit Aura zu tun. Große Künstler haben mit Aura zu tun. Es gibt eine unendliche Sehnsucht nach Aura. Walter Benjamin hat das ausdrücken können wie kein anderer: Aura ist die einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie auch sein mag.
Bemerken Sie diese Ferne auch an sich selbst? Ich habe das Gefühl, langsam zu vergessen, wie es war, in einem Konzertsaal, in einem Theater, einem Opernhaus zu sitzen.
Hinterhäuser: Mir geht’s genau umgekehrt. Ich erinnere mich immer deutlicher. Ich rufe mir diese Momente herbei. Und dann gibt es dieses schöne Lied von Leonard Cohen, mit dem Refrain: I can’t forget /I can’t forget / but I don’t remember what.
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