Sie schreit und tobt, kratzt und beißt wieder. So haben wir Helena Zengel vor zwei Jahren im Berlinale-Film „Systemsprenger“ kennen gelernt. Und so sehen wir die mittlerweile zwölfjährige Berlinerin nun erneut – in ihrem ersten Hollywoodfilm. In dem Western „Neues aus der Welt“ spielt sie buchstäblich eine Wilde: ein deutschstämmiges Mädchen, das als Kleinkind von Indianern entführt wurde. Eines Tages wird sie in der Wildnis gefunden und soll in die Zivilisation zurückgebracht werden. Doch dagegen wehrt sie sich mit Händen und Füßen.
Man versteht sofort, warum man den kleinen Star aus „Systemsprenger“ für die Rolle gecastet hat. Und wie dort Albrecht Schuch, ist es diesmal Tom Hanks als der Bürgerkriegsveteran, der das Mädchen findet, der als einziger Zugang zu dem Kind findet. Und mit ihr einen langen, gefährlichen Weg auf sich nimmt, um sie zu ihren letzten Verwandten zu bringen.
Helena Zengel hätte Tom Hanks vielleicht etwas Nachhilfe geben sollen
„Neues aus der Welt“, der eigentlich ins Kino kommen sollte, wegen Corona nun aber auf Netflix startet, ist ein klassischer, elegischer, fast altmodischer Western. Man kann kaum glauben, dass ihn Paul Greengrass inszeniert hat. Hat der Regisseur dem Actionkino mit seinen Jason-Bourne-Thrillern doch noch mal gehörig Rasanz verliehen.
Sein erster Western – übrigens auch der erste von Tom Hanks, obwohl er als der All American Guy dafür längst prädisponiert war – ist ein historisches Road Movie mit wenig PS, in dem ein grundverschiedenes Pärchen, das wilde Kind und der verhärmte Veteran, sich im Laufe der Zeit immer näher kommen. Und sich verstehen lernen, mit Händen und Füßen, mit Englisch und Kiowa – und ein paar Brocken Deutsch.
Tom Hanks darf hier ein bisschen Deutsch radebrechen, wie er es in seinen früheren Filmen mit Tom Tykwer gelernt haben mag. Leider sprechen auch die vermeintlich deutschen Pioniere, einziger Nachteil dieses schönen, starken Films, einen harten Akzent. Helena Zengel hätte vielleicht etwas Nachhilfe geben sollen. Die Zwölfjährige selbst hat nur wenig Dialogzeilen – und glänzt doch mit einer Präsenz, weit über bloße Worte hinaus.
„Neues aus der Welt“ handelt von Traumata und Verlust
Das Filmdrama handelt von Traumata und Verlust. Und beide Figuren, die da auf ihrem langen Weg aneinander wachsen, haben damit zu kämpfen: Das Mädchen hat gleich zwei Mal eine Familie verloren – erst ihre eigene, an die sie sich kaum mehr erinnern kann, dann auch ihre indianische Ersatzfamilie, die von Weißen abgeschlachtet wurde.
Aber auch der Mann hat nicht nur Narben auf der Haut, sondern erst recht auf der Seele. Beide, heißt es einmal, müssen mit ihren Dämonen kämpfen. Der Alte rät dem Mädchen, das Vergangene zu vergessen und nach vorn zu schauen. Am Ende aber wird er von dem Kind eines Besseren belehrt: dass man sich seinen Schatten stellen muss, um über sie hinwegzukommen. Und beide lernen, dass es nicht wichtig ist, woher man kommt oder zu wem man gehört, sondern wem man sich zugehörig fühlt.
So vermeintlich altmodisch und prärieverstaubt der Film daherkommt, liest er sich doch als überaus aktueller Kommentar auf die heutigen USA. Im Jahr 1870, in dem er spielt, fünf Jahre nach Ende des Bürgerkriegs also, ist die Nation so gespalten und zerrissen, wie wir das heute wieder kennen. Es gibt die einen, die für die Befreiung der Sklaven gekämpft haben und die Gesellschaft voranbringen wollen, und die anderen, die nur ihre Pfründe verteidigen und alle verteufeln, die eine andere Hautfarbe haben, ob das nun ehemalige Sklaven sind oder indianische Ureinwohner. Selbst ein strohblondes, blauäugiges Kind wird da sehr misstrauisch angesehen, wenn es indianische Riten vollzieht.
„Neues aus der Welt“ ist auch ein Lobgesang auf Bildung
Captain Jefferson Kyle Kidd (Hanks) reitet wie ein Heilsbringer durch dieses zerrissene, geschundene Land – um es zu versöhnen. Spät im Film erfährt man, dass er einmal eine eigene Druckerei besaß, bevor er im Bürgerkrieg alles verlor. Nun zieht er von Ort zu Ort, um die Abgeschiedenen in der Provinz in diesen schwierigen Zeiten mit ein paar Geschichten zu unterhalten. Vor allem aber, um den vielen Analphabeten für ein paar Cents titelgerecht Neues aus der Welt zu berichten. Um sie zu informieren über all das, was sich in der Welt verändert. Eine Art One-Man-Presseschau sozusagen.
„Neues aus der Welt“ ist somit auch ein Lobgesang auf Bildung, Wissen und den guten alten Journalismus in Zeiten von Fake News und der Diffamierung als „Lügenpresse“. Auch von einer grassierenden Pandemie muss der Captain berichten: Es handelt sich um Meningitis, nicht Corona, aber die Parallele drängt sich auf. Fernab von den hohen Politikern im fernen Westen wollen nicht alle in den unterlegenen Südstaaten von den Neuerungen, die man ihnen abverlangt, hören.
Oft brodelt der Volkszorn. Ein mächtiger Landbesitzer druckt sogar eine eigene Zeitung und will den Vorleser zwingen, seine verdrehte Sicht der Welt zu verkünden. Doch Kidd hält an der Wahrheit fest und erreicht damit sogar – eine Schlüsselszene des Films – einen Umbruch, der sich auch als Signal für die USA nach Donald Trump lesen lässt.
Paul Greengrass hat mit der Verfilmung des (in Deutschland noch nicht veröffentlichten) Romans von Paulette Jiles ein feines Näschen bewiesen: weil der Stoff jetzt noch aktueller ist als bei Erscheinen des Buchs 2016, als die Ära Trump erst dräuend heraufzog. Mit Tom Hanks, der für Greengrass schon einen anderen Captain in „Captain Phillips“ spielte, und Helena Zengel, die er in „Systemsprenger“ entdeckte, hat der Regisseur zugleich ein so ungleiches wie unglaubliches Paar geschaffen, das auch über Tagesaktualitäten hinaus im Kopf bleiben wird. „Neues aus der Welt“ wurde gerade für zwei Golden Globes nominiert: einen für die Musik, einen für Helena Zengel. Gut möglich, dass der Film auch ein heißer Oscar-Favorit wird.
„Neues aus der Welt“ läuft auf Netflix
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