Hamburg. Eine seiner Amtsvorgängerinnen hat als Ex-Kultursenatorin Bücher zu diesen Themen veröffentlicht: „Wie erkläre ich meinem Hund, dass er kein Mensch ist“ und „Wenn Frauen jüngere Männer lieben“. Eine andere hat, weit vor ihrer Amtsübernahme, an einem Ausstellungskatalog über „Drogen im Kulturvergleich“ mitgearbeitet. Carsten Brosda (SPD), der amtierende Hamburger Kultursenator, setzt andere Prioritäten und brachte es damit in nur etwas mehr als einem Jahr auf drei Bücher. Ein Output-Tempo, auf das selbst Stephen King neidisch werden könnte – und der schreibt hauptberuflich.
Nach einer Gedankenbündelung über gesellschaftlichen Zusammenhalt und einem weiteren Band über die Bedeutung von Kultur für eine offene Gesellschaft legt Brosda nun, durch die verheerende, systemerschütternde Corona-Krise der letzten Monate überrumpelt und ins noch grundsätzlichere Nachdenken gekommen, seinen Ausblick auf die Zeit und die riesigen Aufgaben danach vor: „Ausnahme / Zustand“.
Buch von Brosda – die "notwendigen Debatten nach Corona“
Das leicht Wortverspielte ist Programm, und es geht, allerdings ganz im Ernst, um die „notwendigen Debatten nach Corona“. Und das, obwohl und während – vielleicht aber auch: weil – Brosda die letzten Monate damit verbracht hat, immer neue Rettungsschirme für die Hamburger Kulturlandschaft zu organisieren und aufzuspannen. Um tunlichst möglichst viel zu retten, was unbedingt gerettet werden muss. Was ihn für die Betroffenen zu einer Art Schutzengel werden ließ. Brosdas ohnehin hohes Ansehen in der Kulturmetropole Hamburg hat das noch weiter verbessert.
Außerdem und nebenbei war Brosda hin und wieder DJ, im Literaturhaus oder im Mojo Club, er kann die Beschallung mit Schlager-Hits durch Literaturhaus-Chef Rainer Moritz geduldig aushalten und analysiert Country-Balladen mit einer Hingabe, als ginge es um einen sträflich überfälligen Weltkulturerbe-Kandidaten. Und er hat kürzlich die ersten zwei Folgen seines eigenen Podcasts mit dem dialektisch kurzgebratenen Titel „Mit Wenn und Aber“ veröffentlicht, um auch auf diesem Weg über den Einstieg mit Musik möglichst schnell zum größeren Ganzen zu kommen und sich mit Gleichgesinnten über nur ganz leicht obskure Herzschmerz-Rock auszutauschen. Seine Tage scheinen jedenfalls eindeutig mehr Stunden zu haben als bei anderen.
Jedes Kapitel endet mit einem 1-a-Thesen-Cliffhanger
Politikkulturgesellschaftdiskurs, für Brosda ist das offenkundig nicht nur ein einziges Wort, aus dem er aus dem Stand mindestens drei rhetorisch geschliffene Eröffnungsreden in gewünschter Länge herauszaubern kann, wie der König Kalle Wirsch nur durch Willenskraft einen Kristall aufblühen lässt. Das ist auch seine Politiker-Lebensaufgabe und Ansporn. Dass Brosda Ex-Journalist ist, Ex-Redenschreiber und Ex-Abteilungsleiter für Kommunikation im SPD-Vorstand – all das liest man der geschmeidig arrangierten Gedankenparade an. Rhetorisch ist alles bestens konstruiert und wasserdicht abgearbeitet, nichts klemmt oder hakt; jedes Kapitel endet, wie sich das gehört, mit einem 1-a-Thesen-Cliffhanger.
Politiker, die einem schriftlich die Welt erklären, wie sie sie sehen? Solche Lektüre hat gern etwas Belehrendes. Diesen Fehler vermeidet Brosda. Er erklärt, geduldig, kundig, gründlich und so anschaulich formuliert, dass alles ganz klar zu sein scheint und letztlich auch schaffbar. Das ist eine große Stärke dieses Buchs: Es fordert, freundlich, Aufmerksamkeit und das eigene Engagement, ohne zu überfordern. Es appelliert ans Gewissen, ans Hirn und ans Herz.
Brosda vermeidet es aber auch, wirklich provokant zuzuspitzen, um aufzurütteln. Im Vorwort kündigt er an, es bräuchte „eine differenzierte und komplexe Therapie, die das Wissen und die Kreativität vieler gesellschaftlicher Bereiche zusammenbringt… Denn wenn die Herausforderungen vielgestaltig sind, müssen es auch die Lösungsansätze sein“. Das ist so wahr wie richtig, aber auch erwartbar und wenig überraschendes Konsens-Sowohlalsauch.
Rhetorisch ist alles bestens konstruiert und wasserdicht
Brosda kommt vom gekonnt Großen ins Kleine, von der „globalen Nähe“, die rasant vom Segen zum Fluch wurde, über die Angst vor dem Kontrollverlust und Sätze wie „Das Coronavirus hat uns vor Augen geführt, wie fragil unser Leben ist“ zu Diskussionsbedarf. Zu gesellschaftlicher Solidarität im öffentlichen Raum. Zu staatlichen Aufgaben und Perspektiven.
Dass ein Suchdurchlauf durch die 128 Seiten den Schlüsselbegriff „Kultur“ nur etwa zwei Dutzend Mal findet, das aber nie an Schlüsselpositionen, ist bezeichnend, weil Brosda den Kulturpolitiker-Blick zugunsten des umsichtigen Gegenwartssoziologen konsequent in die zweite Reihe stellt. Und warum sollte er sich auch wiederholen? Steht ja alles im letzten Band, „Die Kunst der Demokratie“, erst im Februar erschienen, der ist ja noch gut. Für ihn stimmt das alles noch – rechnet man Corona heraus.
Könnte man sich proaktiv um einen bestimmten Posten im Berliner Schloss Bellevue bewerben, wäre diese Denkanstoß-Sammlung ein durchaus vorzeigbares Bewerbungsschreiben für viel Höheres als das jetzige Hamburger Amt. „Vor uns liegt eine Zeit, die nach politischer Gestaltungslust geradezu schreit“, lautet der letzte Satz. Der sehr danach klingt, als ob das noch längst nicht Brosdas letzte Wortmeldung zu solchen Herausforderungen gewesen sein soll.
Lesung: 16. 11., 19 Uhr, Freie Akademie der Künste, Klosterwall 23. (12 bzw. 8 Euro).
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