Schauspielhaus-Kritik

Großes Theater in einer alten Kirche auf der Veddel

| Lesedauer: 4 Minuten
Annette Stiekele
So sieht es aus in Utopia: Man sitzt bequem.

So sieht es aus in Utopia: Man sitzt bequem.

Foto: christian bartsch

Die Schauspielhaus-Inszenierung "Veddeltopia" interpretiert sehr frei H.G. Wells und geht dafür an einen besonderen Hamburger Ort.

Hamburg. Der Urknall ist der Beginn des Universums, das steht außer Frage. Die Errungenschaften Europas, etwa die Schaffung der ersten Demokratie in Griechenland, sind ebenso unbestritten. Aber war es wirklich so, dass der erste Primat in Afrika aufrecht ging? Das sind so die Fragen, die eine muntere Truppe in Sportuniform da sehr aufgeregt in der Mitte der Immanuelkirche diskutiert.

H.G. Wells (1866-1946), der große britische Autor des Phantastischen und überzeugte Sozialist, hat in seiner zwischen den Kriegen verfassten Utopie „Menschen, Göttern gleich“ das Bild einer vollkommenen Welt auf dem Planeten Utopia skizziert. Für ihre freie Aneignung des Stoffes mit dem Zusatz „Menschen, Göttern gleich. Oder: Veddeltopia“ zieht Regisseurin Paulina Neukampf alle Register und landet einen Abend, in dem Gedankenschärfe, Witz und Spielfreude in der regelmäßig bespielten Außenstelle des Schauspielhauses auf der Veddel eine faszinierende Verbindung eingehen.

Der Komfort eines Plastikstuhls

Die Zuschauer betreten die Kirche über die Pastorentreppe und sitzen mit Blick auf die Orgel und den Haupteingang. Die grün ausgelegte Bühne ist leer bis auf einen Hügel aus Europaletten (Bühne: Julia Katharina Berndt). Bettina Stucky lobt jene Paletten: „Ja, das macht Sinn! Das verstehen wir. Das macht so viel Sinn.“ Ihr Vortrag gipfelt in der Diskussion um den Komfort eines Plastikstuhls. Später geht es um die Frage, ob der Apfel, den Gala Othero Winter aus den Tiefen ihrer Hosentasche befreit, eventuell vergiftet sein könnte. Und da ist sich das Quintett sehr schnell einig: einer muss sich nach demokratischem Urteil opfern. Es trifft Benjamin Nazemi.

Man weiß eine ganze Weile nicht, wo diese Inszenierung hinführt, bis sich herausstellt, dass Neukampf und ihr Team den Science-Fiction-Klassiker von H.G. Wells umgedreht haben. Anstelle eines Provinzjournalisten, der per Auto aus der Kurve fliegend in einer Utopisten-Welt landet, strandet hier ein Boot mit Utopisten in der althergebrachten Welt der fünf nicht näher definierten Sportfreunde. Es kommt zum unweigerlichen Zusammenprall der Entwürfe, die 3000 Jahre trennen. Die von Josefine Israel mit einem Holzstern angeführte Utopisten-Truppe wirkt in ihren beigefarbenen Gaze- und Plastik-Gewändern (Kostüme: Mascha Milhoa Bischoff) wie eine erleuchtete Sekte komischer Heiliger. Alles erscheint beängstigend ideal. Es gibt keine Regierung, kein Geld, keine Machtkämpfe, keine Krankheiten, keine Melancholie. Nur Frieden, Menschlichkeit, Glück, beste Laune. Doch so einfach ist das auch wieder nicht. Denn als durch die vermeintlich „verschmutzten“ Menschen der „alten“ Welt die Einfuhr von Krankheiten und Epidemien in die keimfreie Welt droht, wehrt die sich mit dem Zwang zur Quarantäne – und offenbart das eigene, wehrhafte totalitäre Gesicht.

Projektionen in Castorf-Manie

Die alteingesessenen Bewohner merken längst, dass sie soviel Perfektion eigentlich nicht ertragen können und sich gar nicht anpassen wollen. „Das Leben bei uns ist unsicher, voll von Leiden und Ängsten, von Elend, Not und Qualen, aber gerade aus diesen Gründen gibt es Augenblicke von Größe, Hoffnung und freudiger Überraschung“, heißt es einmal. Die Utopisten hätten sich von der „vibrierenden Realität“ des Lebens entfernt. Aus diesen faszinierenden, dualistischen Gedankenspielen generiert Regisseurin Paulina Neukampf Szenen von großer Lebendigkeit.

Sie bespielt auch die Orgelempore, den Außenbereich sowie einen kleinen Schuppen und projiziert das Ganze per Handkamera sehr gelungen in Castorf-Manier auf die Holzbretter.

Vor allem Gala Othero Winter steigert sich, einmal schier um den Verstand stotternd, dann Arien schmetternd und mit Bettina Stucky über Nahrung und Kultur debattierend in kunstvolle Slapstick-Höhen. „Veddeltopia“ ist am Ende eine faszinierend kluge Parabel über Gesellschaftssysteme, über ein strauchelndes, aber trotzdem nicht so verkehrtes Europa, über Streitkultur und über die Frage, wer eigentlich wen integriert. Fragen, die sich übrigens auf der bunten Veddel in besonderer Weise stellen.