Aribert Reimanns Oper “Lear“ wird am Sonntag erstmals an der Staatsoper gezeigt

Hamburg. Jeder Mensch, sagt Albert Camus, sei ab einem gewissen Alter für sein Gesicht verantwortlich. Dazu gehört, dass der Mensch sich dieser Verantwortung auch stellt. Nicht zu lächeln, wenn er nicht lächeln will, keine Miene zu verziehen, bloß weil jemand von Berufs wegen auf den Auslöser seiner Kamera drückt. Der vom Abendblatt-Fotografen vorgebrachte Satz "Sie gucken aber ernst" entlockt Aribert Reimann, 75, am Ende sogar so etwas wie das Spurenelement eines Lächelns. Doch das Lob "Da ist es ja, das Lächeln" lässt es umgehend wieder ersterben. Ich bin, der ich bin, so müssen Sie mich nehmen, anders kriegen Sie mich nicht, sagt Reimanns offenes, empfindliches, von einer stillen Freundlichkeit geprägtes Gesicht bei jedem Klick-klick.

Aribert Reimann ist einer der bedeutendsten Komponisten der Gegenwart. Bedeutet das, dass ihm Autogrammjäger auflauern? Nein, er kann unbehelligt durch die Straßen gehen. Man muss den Ruhm eines Gegenwartskomponisten in Relation setzen. Auf YouTube gibt es Ausschnitte aus seiner Oper "Lear" zu sehen, die an diesem Wochenende erstmals an der Hamburgischen Staatsoper gezeigt wird. Die berühmte Schlussszene mit Dietrich Fischer-Dieskau und Julia Varady wurde bislang 5020-mal angeschaut. Das ist, gemessen an der Größe des Werks, an der Güte der Sänger, an der Wirkungsmacht der Aufführung, ein Witz. Karoline Gruber inszeniert in Hamburg die 24. Produktion des "Lear" - welche andere, vom Stoff her so schwere zeitgenössische Oper hätte einen ähnlichen Erfolg vorzuweisen? Auch wenn der "Lear" sein bekanntestes Werk ist: Spätere Bühnenwerke wie die "Gespenstersonate", "Troades", "Das Schloss" und vor allem "Medea" haben Reimanns Rang als skrupulöser Schöpfer jeweils eigener Klangwelten immer wieder bestätigt. Liebhaber moderner Opern gucken einfach zu wenig YouTube.

Er hat sie alle gesehen, seine "Lears", ob in Berlin, Paris, London, San Francisco, Düsseldorf oder München, wo 1978 die Uraufführung stattfand. "Und jede gibt mir wieder neu zu denken", sagt Reimann.

Einsiedler aus Notwendigkeit, hasst er beim Komponieren die Wiederholung, "das ist für mich das Schlimmste". Sein Werkkatalog: Eine Gebirgskette aus lauter unverwechselbaren Solitären. Die einander benachbarten sind dabei oft besonders gegensätzlich. Als Reimann an der "Medea" schrieb, dem komplementären, doch gegenüber der Shakespeare-Oper mit ihrem gewaltigen Schlagzeugapparat sehr viel durchsichtiger komponierten Werk, sah er eine "Lear"-Aufführung in Frankfurt: "Da stand ich regelrecht neben mir. Ich konnte mich gar nicht mehr in diesen Klang hineindenken." Ihn jetzt in Hamburg wieder zu hören geht gerade noch - Reimanns nächstes Bühnenwerk ist für 2014 terminiert. Noch bewohnt ihn die neue Musik nicht so raumgreifend, dass er alles andere eliminieren muss.

Hamburg weckt in Reimann beinah heimatliche Gefühle. Es ist die einzige Stadt in Deutschland, in die zu ziehen er je ernsthaft erwog. Als er den "Lear" komponierte, hatte er hier an der Musikhochschule einen Lehrauftrag, wohnte in einer WG an der Grindelallee. Und dankbar erwähnt der Komponist, dass seine Studenten 1977 sofort bereit gewesen seien, den blockweise gegebenen Unterricht zu verschieben, bis er mit dem "Lear" fertig war. Denn Schreiben - jede Orchesterstimme, jede Note ausschließlich per Hand: Das geht für den Weltkomponisten aus Berlin am besten in der Einsiedelei seiner großen Wohnung im Grunewald.