Hamburg. Die Leiden des Künstlergenies haben es Hamburgs Ballettchef John Neumeier seit jeher angetan. Auch in seiner mit Bravos in der Hamburgischen Staatsoper gefeierten Wiederaufnahme der „Bernstein Dances“, dessen Uraufführung 20 Jahre her ist, sind sie ein beherrschendes Thema. Um das Leben und Wirken eines ganz Großen geht es: Leonard Bernstein (1918– 1990). Der Geburtstag des Pianisten, Komponisten, Dirigenten und engagierten Musikvermittlers jährte sich im August zum 100. Mal. Die Revue, die sich frei an seinem Leben und seinen Werken orientiert, hat durch die junge Besetzung an tänzerischer Frische und Vitalität gewonnen.
Christopher Evans, soeben in die Riege der Ersten Solisten aufgestiegen, meistert als tänzerischer Wiedergänger den Part des liebenswürdigen, an beiden Enden für die Musik brennenden Künstlermenschen. Nicht von ungefähr startet die Choreografie mit dem Prolog „Wer bin ich?“. Bernstein war auch ein Zerrissener, der um seine Anerkennung als Komponist rang, aber durch das Dirigieren häufig davon abgehalten wurde. Und er war ein Familienmensch, der nach einem Weg suchte, seine Homosexualität zu leben.
Nachdenklich sitzt Evans zu Beginn am Klavier, das Pianist Sebastian Knauer bald übernimmt. Die prägenden Geister seines Lebens sind schon da, Emilie Mazon, Hélène Bouchet und Jacopo Bellussi als frühe und späte Lieben und Alexandr Trusch als eine Art Liebesbote „Love“. Die Leinwand mit Fotos des Meisters und einem kurzen Videoausschnitt, der Bernsteins exaltierten Dirigierstil dokumentiert, hätte da als Illustration nicht notgetan. Das schaffen die herausragenden Tänzerinnen und Tänzer des Hamburg Balletts auch allein vor dem großartigen Bühnenbild, das Neumeier mit den New-York-Fotos von Reinhart Wolf dekoriert.
Um Anfang und Aufbruch geht es in den Liebeserklärungen an New York, die Stadt der Städte, um junge Glückssucher, aber auch um Einsamkeit. Mit technischer Akkuratesse, Athletik und Bravour meistert Christopher Evans jede noch so komplizierte Drehung, jeden Sprung, schert in ein Pas de trois ein oder glänzt solo. Stets ein Lächeln auf den Lippen bringt er die nötige Leichtigkeit mit, die etwa die Szenen aus den Musical Comedies verlangen. In den Pas de deux mit der wie stets immens ausdrucksstarken Hélène Bouchet ist Distanz spürbar, anders als mit der leichtfüßigeren, aber nicht ganz so präzisen Emilie Mazon. Neben Evans glänzen hier der virile Karen Azatyan und die feinnervige Madoka Sugai.
Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter Garrett Keast hat sichtlich Freude an der flirrend Broadway-tauglichen Bernstein-Musik. Die Sänger erhalten auch szenisch mehr Raum, was die Konzentration auf das tänzerische Geschehen schmälert. Dennoch, Sopranistin Dorothea Baumann und Bariton Oedo Kuipers erhalten am Ende verdienten Extraapplaus.
Inhaltlich setzt Neumeier auch jenseits der Erinnerung an diese Künstlerpersönlichkeit ein politisches Signal, wenn ein Ausschnitt aus „Mass“ (1971) erklingt. Von der Kritik seinerzeit als modischer Kitsch verschmäht, transportiert die „Messe“ – damals waren es politisch bewegte Zeiten der Proteste gegen den Vietnamkrieg – eine klare Botschaft für Frieden, gegen Spaltung und Ausgrenzung.
Zum Höhepunkt der „Bernstein Dances“ gerät nach der Pause „Am Abend ... und durch die Nacht“ eine Serenade nach dem „Symposium“ des antiken Denkers Plato. Es passt nicht zuletzt deshalb gut hierher, weil auch Bernstein ein leidenschaftlich den Menschen zugewandter Liebender war.
Wir blicken auf eine elegante Abendgesellschaft, in der sich drei in elegante, fließende Armani-Roben und Anzüge gewandete Paare in einem delikaten Beziehungsspiel umarmen, lieben, streiten, ohrfeigen, verlieren und neu finden. Christopher Evans und Hélène Bouchet geben ihrem Pas de deux Ernst und Würde. Verspielt und innig dagegen umkreisen sich Emilie Mazon und Jacopo Bellussi und voller Sinnlichkeit und mit viel Sprungkraft Madoka Sugai und Karen Azatyan. Schließlich mischen sich die Paare neu – mit so mancher Überraschung.
Das große Finale mit seinen mitreißenden Gruppentableaus wird zum Triumph eines Abends, in dem Künstler-Ernst und Musical-Leichtigkeit sich wohltuend die Waage halten. Getragen von einem erneut überragenden Hamburg Ballett sind „Die Bernstein Dances“ eine Revue ohne Verfallsdatum.
„Bernstein Dances“ 11.9., 13.9., 14./15., 9., 17.6., jew. 19.30, Hamburgische Staatsoper, Dammtorstraße 28, Karten 6 bis 97 Euro unter T. 35 68 68; www.hamburgballett.de
Mehr Artikel aus dieser Rubrik gibt's hier: Kultur & Live