Hamburg. Der Ohlsdorfer Friedhof wird in jedem Reiseführer beschrieben: mit 389 Hektar Fläche größter Parkfriedhof der Welt, seit der Gründung 1877 letzte Ruhestätte für 1,4 Millionen Menschen, mehr als 200.000 Grabstellen. Eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges.
Was in keinem Reiseführer steht: Der Ohlsdorfer Friedhof ist ein verzauberter Ort. Sobald man die Wege verlässt, sich durch die Anlagen treiben lässt und sich in den Wäldchen verliert, öffnet sich hier Raum für Geschichten, für Mythen und Träume. Der Ohlsdorfer Friedhof ist ein Ort für Erzählungen, ein Ort für Theater.
„Geister“ von Kai Fischer und Christopher Weiß, die als Die Azubis mittlerweile zu den Aktivposten der freien Hamburger Theaterszene zählen, beginnt als quasi-touristische Tour über das Gelände: Fischer führt einen von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit, hier das Grabmal für die Gefallenen der Revolution 1918, dort die martialisch anmutende Gedenkstätte für das Polizeirevier Blutbuche.
Nackte Informationen: nicht mehr benötigte Grabsteine werden geschreddert, das Granulat auf die Wege gestreut, weswegen man seine Schuhe beim Verlassen des Friedhofs gut abschütteln solle. „Was einmal auf dem Friedhof ist, soll auf dem Friedhof bleiben.“ Betretenes Schweigen im Publikum, man versteht, was gemeint ist – das hier ist eine Endstation, von hier aus geht es nicht weiter, trotz der lieblichen Umgebung, trotz des weichen Lichtes, das sich am frühen Abend in den Blättern fängt.
Und plötzlich schleicht sich der Mythos in den Spaziergang. Eine junge Frau (Sara Reifenscheid) gesellt sich zu den Besuchern, Kapuzenpullover, flackernder Blick: „Habt ihr meinen Bruder gesehen?“, schon ist sie wieder weg. Ein paar Schritte weiter, im Ehrenhain Hamburger Widerstandskämpfer, bittet eine weitere Darstellerin (Agnes Wessalowski, ausgeliehen vom oft mit den Azubis kooperierenden, inklusiven Klabauter Theater) um Hilfe bei einem Begräbnis, später sucht ein enervierend aufgedrehtes Mädchen (Lisa Apel) nach einer ästhetisch ansprechenden Location für den eigenen Tod. „Kannst du mich mal fotografieren?“, bittet sie eine Zuschauerin, „Nee, das sieht scheiße aus. Wenn da alles voller Blut ist, voll eklig.“ Unversehens ist man im klassischen Altertum, die Frauen sind Elektra, Antigone und Iphigenie, und die Fragen, die sie über den Tod stellen, sind Fragen, die sich auch das Publikum stellt: Darf man für ein höheres Ziel töten? Wie wichtig ist einem
selbst ein Begräbnis? Wäre man bereit, sich für einen geliebten Menschen zu opfern?
Mit einem Schlag ist „Geister“ kein Spaziergang mehr, sondern Performance, Bühnengeschehen. Das nicht einmal den Anspruch erhebt, etwas anderes zu sein: Niemand glaubt, dass die Begegnungen zufällig sind, zumal die Darsteller sich auch gar keine Mühe geben, den Inszenierungscharakter des Gezeigten zu verschleiern.
Fischer und Weiß geht es nicht darum, die Illusion einer echten Geisterbegegnung zu erzeugen, es geht ihnen darum, einen gedanklichen Prozess über Werte anzustoßen, angesichts der Endlichkeit des Daseins.
Das allerdings funktioniert bei „Geister“ nur halb: Im Gegensatz zu früheren Azubis-Produktionen wie „Dr. Faustus sucht das Glück“ vor fünf Monaten, einer strukturell verwandten Tour entlang Goethes Drama über die Reeperbahn, wirkt der inhaltliche Rahmen hier nicht immer zwingend. Manchmal sind die angesprochenen Probleme trivial, zum Beispiel wenn das Publikum aufgefordert wird, sich zu Aussagen wie „Ich esse gerne Fleisch“ zu verhalten.
Manchmal kommen die Inhalte mit dem Holzhammer daher, wenn Fischer die Zuschauer im Kontext von Widerstandsbiografien direkt fragt, für welche Werte sie bereit wären, in den Widerstand zu gehen. Und manchmal wirken die mythischen Passagen gewollt, wie ein klassischer Überbau, der dem Geschilderten ein Gewicht verleihen soll, das den Theatermoment beinahe erdrückt.
Die Qualität des gut 90-minütigen Abends liegt entsprechend weniger auf der inhaltlichen als auf der szenischen Ebene. Denn das können Fischer und Weiß: Orte mit minimalen Mitteln verwandeln, das Publikum einbinden, ohne es ins Stück zu zwingen, Theaterbilder skizzieren. Man bahnt sich seinen Weg durch Eicheln und Efeu, man spürt die letzten Sonnenstrahlen, über Kopfhörer zerreißt einem Bachs Kantate „Ich habe genug“ fast das Herz: „Ich freue mich auf meinen Tod.“ Und in der Ferne, jenseits einer Wasserfläche, erkennt man Apel auf einer Bank. Eine Szene. Theater.
„Geister“ wieder am 6.9., 7.9. und 9.9., jeweils um 19 Uhr, Ohlsdorfer Friedhof, Fuhlsbütteler Straße 756, Sammelpunkt hinter
dem Verwaltungsgebäude, Tickets können
per E-Mail an kindertheater@dieazubis.de gebucht werden; weitere Infos im Internet unter: www.dieazubis.de
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