Hamburg. Den Satz „Und so sehen wir betroffen/Den Vorhang zu und alle Fragen offen“, kennen viele Zuschauer aus dem Fernsehen. Der Kritiker Marcel Reich-Ranicki beendete mit dieser Abwandlung eines Brecht-Zitats jedes „Literarische Quartett“, das zwischen 1988 und 2001 im ZDF lief. Das Original bekommen die Premierengäste im Ernst Deutsch Theater zum Abschluss von „Der gute Mensch von Sezuan“ präsentiert. Am Ende dieses Lehrstücks werden alle Schauspieler an der Rampe versammelt und die Zuschauer in das Geschehen einbezogen. Sie sollen selbst eine Lösung für den Konflikt der Hauptfigur Shen Te (Maren Kraus) finden, die den Mitmenschen Gutes tun möchte, doch in der Realität mit ihrem Anspruch immer wieder scheitert.
Das Stück, 1943 in Zürich uraufgeführt, beginnt mit dem Auftritt von drei maskierten Göttern, die in der Provinz Sezuan auf der Suche nach einem guten Menschen sind. Sie treffen auf die Prostituierte Shen Te und geben ihr eine große Summe Geld für ein Nachtlager. Shen Te kauft von den 1000 Dollar einen kleinen Tabakladen und versucht so, der Armut zu entkommen. Doch ihre Probleme beginnen erst, denn viele Notleidende klopfen an ihre Tür und wollen Hilfe. In ihrer Gutmütigkeit und Naivität versucht sie zu helfen, doch die Schmarotzer drohen sie zu zerreißen. Shen Te erfindet deshalb den Vetter Shui Ta, schlüpft in Männerkleider und entledigt sich nun mit unbarmherziger Härte der Menschen, die sie auszunutzen versuchen. Der innere Widerspruch droht sie dabei zu zerstören. Sie weiß am Ende keinen Rat – und die hilflosen Götter wissen auch keinen.
Bühnenbild erinnert an Flüchtlingsunterkünfte
Wolf-Dietrich Sprenger hat diesen Klassiker des epischen Lehrtheaters konventionell inszeniert, ohne plakative Bezüge zur Wirklichkeit herzustellen. Das Bühnenbild von Achim Römer mit den Wohncontainern erinnert zwar an Flüchtlingsunterkünfte, wie sie seit einigen Jahren in Deutschland errichtet werden, doch die Wellblechbehausungen könnten auch in den Favelas der Dritten Welt stehen. Es gibt eine Szene, in der laute „Lasst uns rein!“-Rufe zu hören sind, die man als Bild für die aktuellen Migrationsbewegungen verstehen kann, doch Sprenger interessiert sich mehr für die Armut der Menschen und was diese mit ihnen macht.
„Erst kommt das Fressen und dann die Moral“, hat Brecht schon in seiner „Dreigroschenoper“ formuliert. Auch im „Guten Menschen von Sezuan“ wird nicht nur Shen Tes Leben auf harte Proben gestellt. Der Flieger Yang Sun (Jonas Minthe) erpresst Geld von Shen Te, um einen korrupten Mann zu bezahlen, der ihm einen Job besorgt; die achtköpfige Familie, die bei Shen Te einfällt, versucht mit Diebstahl und Betrügereien zu überleben; der Schreiner Lin To (Mohammad-Ali Behboudi) landet im Suff, nachdem er durch Shui Tas Verhalten pleite gegangen ist, seine Tochter (Ümran Algün) wühlt im Müll nach etwas Essbarem. Solidarität untereinander gibt es nicht, jeder denkt nur an sich. Als Shui Ta dann zum skrupellosen Chef einer Tabakfabrik aufsteigt, zeigt Sprenger die Kapitalismuskritik von Bertolt Brecht, ohne die vorgegebene Form aufzubrechen.
Maren Kraus bewältigt ihre Rolle mit Bravour
Im Mittelpunkt der Inszenierung am Ernst Deutsch Theater steht die junge Schauspielerin Maren Kraus. Sie bewältigt die anspruchsvolle Rolle mit Bravour. Blitzschnell verwandelt sie sich immer wieder von der herzensguten und liebenden Shen Te in den egoistischen und kaltherzigen Shui Ta. Je länger das Stück läuft, desto mehr zeigt sie die Seelenqualen, die sie in ihrer Doppelrolle aushalten muss.
Oliver Warsitz als affektierter Friseur, Jonas Minthe, der zum skrupellosen Erfüllungsgehilfen Shui Tas wird, Jessica Kosmalla in verschiedenen Rollen und Christoph Tomanek als mitfühlender Wasserverkäufer ragen aus dem guten Ensemble heraus.
Am Ende gibt es starken Premierenbeifall für die 18-köpfige Schauspielertruppe und das Regieteam um Wolf-Dietrich Sprenger.
Daten und Karten
,Der gute Mensch von Sezuan’ ist bis zum 28. September im Ernst Deutsch Theater (Friedrich-Schütter-Platz 1) zu sehen. Die nächsten Vorstellungen gibt es am 25.8. (19.30 Uhr), 26.8. (15 und 19 Uhr) sowie am 28./29.8. jeweils um 19.30 Uhr. Karten zu Preisen von 22 bis 42 Euro sind unter T. 22 70 14 20, an der Theaterkasse und unter www.ernst-deutsch-theater.de erhältlich.
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