Bochum

Schlagzeuger unterm Hallendach, T-Rex auf der Bühne

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Joachim Mischke

Der in Hamburg lebende Regisseur Christoph Marthaler stellte sein Musiktheater-Spektakel „Universe, Incomplete“ bei der Ruhrtriennale vor

Bochum.  Marthalermenschen sind sonderbare Gestalten. Sie sehen etwas anders aus als normale Menschen, tragen komische Kleidung, sind mit sich oder anderen allein, machen mitunter sonderbare Bewegungen und singen auch gern, meistens schön leise und wahnsinnig melancholisch. Man trifft sie nur in den leicht klaustrophobischen Räumen von Anna Viebrock. Ihr geistiger Vater ist der in Hamburg lebende Schweizer Regisseur Christoph Marthaler, er stellt sie quer in die normale Welt in seinen mittlerweile sehr vielen Inszenierungen, demnächst erhält er dafür in Oslo den International Ibsen Award.

Bei der gerade begonnenen Ruhrtriennale hat ihn nun seine langjährige Dramaturgie-Weggefährtin, die Intendantin Stefanie Carp, zum „Artiste associé“ befördert und die riesige Bochumer Jahrhunderthalle spendiert, um ein „Universe, Incomplete“ hineinzuwürfeln – mit anderthalb Dutzend eigenwilliger Marthalermenschen und eigenwilliger Musik des amerikanischen Eigenbrötler-Komponisten Charles Ives. Der hatte sich jahrzehntelang so sehr im all-vertonenden Konzept einer „Universe Symphony“ verzettelt, dass sie Bruchstück blieb. Eine ideale Gelegenheit, um die Ideen-Zettelkästen von Marthaler und Ives aufeinander loszulassen; für die musikalische Umsetzung sorgten die kompletten Bochumer Symphoniker, verstärkt durch etliches Zusatzpersonal.

Es ist ein wunderbar verschrobener Abend

Obwohl: Losgelassen wurde zunächst gar nichts vor der großen Zuschauertribüne. Brav am Einreiseschalter für Aliens auf ihren Einlass wartend, tröpfelten die Gestalten auf die fußballfeldgroße Spektakel-Spielwiese, während Schlagzeuger, bis unters Hallendach versteckt, meditativ vor sich hin klöppelten. Na ja, denkt man sich. „Na ja“ waren tatsächlich die ersten Worte, die aus einem Lautsprecher kamen, bevor das Nicht-Handlungs-Ballett Form annahm und seinen sanft spinnerten Charme ausreizte. Dabei blitzten Anspielungen auf das Kleinstadt-Leben im New England des frühen 20. Jahrhunderts auf, das Ives’ Stil prägte: Patriotischer Marching-Band-Frohsinn ebenso wie die Kostüme, die an Baseball und Colleges erinnerten.

Feinfühliger Musikkenner, der er seit Jahrzehnten ist, hatte Marthaler vieles vom Besten aus Ives’ Werkkatalog herausgesucht und dafür wunderbar verschrobene Bühnenbilder erfunden: Etwa ein Karl Marx ähnelnder Mann, der mit seiner Tuba verzweifelt zwischen zwei Orchesterklumpen hin und her wetzte, um endlich seinen Platz in der Musikwelt zu finden, ein großartiger, buchstäblicher „Running Gag“, um Ives’ Faszination für gegeneinander verschobene Musik darzustellen.

In einer anderen Passage schwebte ein riesiger, einbeiniger Tyrannosaurus Rex aus Pappmaché herein, während das Orchester Teile der 4. Sinfonie in den Raum pustete. Reichlich irre, aber toll. Während zwei Pianisten auf knapp verstimmten Klavieren spielten, wie es Ives verlangte, robbten die Marthalermenschen in Zeitlupe weit hinten in der Halle über eine lange Tischtafel.

Manche der bewährten Marthaler-Gesten in dieser gerade mal zweieinhalbstündigen Collage kamen einem so bekannt vor, die Zappelringer-Choreografien gab es kürzlich am Schauspielhaus in „Übermann oder die Liebe kommt zu Besuch“ zu beschmunzeln. Aber: egal. Ohne sie würde eine Marthalerkonstante fehlen. Was passiert, passiert, und wer fragt, warum, kann lange warten. Und da ein unfertiges Universum ohne eine unbeantwortete Frage nur halb unfertig wäre, endete das x-te Klassentreffen der Verpeilten mit einer Szene, in der die Marthalermenschen scheintot herumstehen. Das letzte, was sie hörten, ist Ives’ größter Hit „The Unanswered Question“, diese verzweifelte Sinnsuche-Vertonung, die leise im Leeren endet, weil ja niemand perfekt ist. Dieser Abend, mit seiner schrulligen Bescheidenheit im ganz großen Maßstab, war ziemlich nahe dran.

Ruhrtriennale bis 23.9.; www.ruhrtriennale.de