Hamburg

„Die Demokratie ist ein zartes Gebilde“

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Jan Haarmeyer

In einem Zeitzeugengespräch mit Hamburger Schülern mahnt der 96-jährige Guy Stern zu Einmischung und Wachsamkeit

Hamburg.  Ganz am Ende hat Professor Guy Stern doch noch eine Botschaft für die rund 60 jungen Leute, die im Ökumenischen Forum in der HafenCity vor ihm sitzen. Knapp 90 Minuten hatten die Neunt- und Zehntklässler des Gymnasiums Klosterschule den Worten des 96-Jährigen beinahe andächtig gelauscht. „Die Demokratie ist ein zartes Gebilde“, sagt Stern am Ende. „Passt bitte gut darauf auf!“

Eigentlich ist sein ganzes Leben eine einzige Botschaft. Guy hieß 1937 noch Günther, als sein Vater beschloss, seinen ältesten Sohn zu einem Onkel nach Amerika zu schicken. Günther war 15 Jahre alt und musste seine Eltern sowie Bruder und Schwester in Hildesheim zurücklassen.

Warum? „Weil wir jüdischen Kinder vier Jahre nach der Machtübernahme Hitlers in Deutschland langsam, aber unaufhaltsam vom Schulbetrieb ausgeschlossen wurden“, erzählt Guy Stern. Wie das passierte? „Erst durften wir nicht mehr auf Klassenfahrten mit, dann gab es verbale Angriffe im Unterricht und schließlich auch immer mehr körperliche Attacken gegen uns.“ Die Schule, sagt er, sei irgendwann eine richtige Folterkammer gewesen.

Guy Stern ist ein kleiner Mann mit wachen Augen. Er kann sehr lebendig erzählen, wandert zwischen den Stuhlreihen und spricht die Schüler direkt an. Er lebt zusammen mit seiner Frau in Detroit und ist ein international anerkannter Professor für deutsche Sprache und Literatur. Er ist Träger der Goethemedaille und des Bundesverdienstkreuzes. Und er ist ein Zeitzeuge, der nicht aufhört, vor Schulklassen buchstäblich Zeugnis abzulegen.

„Die Begegnung mit Zeitzeugen wie Guy Stern ist besonders für junge Menschen ein prägendes Erlebnis, mit dem ihnen ein Bewusstsein für unsere Vergangenheit vermittelt wird“, sagt Kultursenator Carsten Brosda (SPD). „Ich danke Guy Stern für sein unermüdliches Engagement, die Erinnerung an die Verbrechen der NS-Zeit lebendig zu halten.“

Ein Jahr lang hat Guy Stern nach seiner Ankunft in Amerika „als Abräum-Kellner“ in Hotels und Restaurants Geld verdient, bevor er es sich leisten konnte, an der katholischen St. Louis University mit einem Studium der Romanistik zu beginnen.

Nach dem japanischen Angriff am 7. Dezember 1941 auf die US-Pazifikflotte in Pearl Habor hingen überall in den amerikanischen Universitäten Plakate, auf denen die Army nach Mitarbeitern suchte: „Wenn ihr Kenntnisse über Kultur und Sprache unserer Kriegsgegner habt, meldet euch!“ Guy Stern hat damals nicht lange überlegt: „Diesem Krieg gegen diejenigen, die mich aus meinem Land vertrieben hatten, musste ich angehören.“

Die Ausbildung in der US Army im Camp Ritchie in Maryland dauerte nur neun Wochen. „Wir lernten, wie man Gefangene befragt und ihnen Geheimnisse entlockt.“ Stern gehörte zu den sogenannten Ritchie Boys, einer überwiegend aus Emigranten gebildeten Spezialeinheit. 1944 landete er drei Tage nach Invasionsbeginn in der Normandie. Er sah die steilen Hügel am Strand, die Bunker und die vielen toten Soldaten. „Vor dem Krieg konnte ich kein Blut sehen“, sagt er. „Wir hatten alle Angst. Aber der Krieg ist blutig.“ Stern spricht von den „Überbleibseln des Kampfes“, die er nie vergessen wird. „Aber meine Zimperlichkeit war von einem auf den anderen Moment weg.“ Nun begann seine Aufklärungsarbeit.

Er kam zuerst bis Paris und sollte herausfinden, was die weiteren Pläne der deutschen Kriegsführung waren. Konnte ein Gegenangriff stattfinden? Was stand in den Dokumenten, die ihnen in die Hände fielen? Er verhörte deutsche Kriegsgefangene und Überläufer und fahndete für die Militärregierung in Karlsruhe nach Kriegsverbrechern.

Und seine Familie? „Ich habe versucht, sie nach Amerika zu holen.“ Er fand sogar einen Amerikaner, der für seine Familie gebürgt hätte. Doch als dieser den US-Behörden erklärte, dass er sein Geld im Casino verdient hatte, wurde die Bürgschaft abgelehnt. Guy hat seine Familie nie wiedergesehen.

„Nach Kriegsende hat mir ein Unbekannter in einem Brief geschrieben, dass er einen kurzen Film über die Deportation von Juden in Hildesheim gesehen hat“, erzählt Stern den Schülern. „Aber ich konnte mir den Film nicht ansehen.“ Er bat seine Frau, sich den Streifen anzuschauen. „Sie hat mir gesagt, dass sie meine Eltern erkannt hat.“

Seine Familie wurde nach Warschau deportiert. Sie ist im Warschauer Getto und im KZ Treblinka ermordet worden.

„Die Vergangenheit kann nicht ausgelöscht werden“, sagt Guy Stern. „Aber ich habe mich meiner Heimatstadt wieder angenähert.“ Sein Geburtshaus steht nicht mehr. An dem Neubau ist ein Schild angebracht, auf dem die Geschichte seiner Familie geschrieben steht. Vor sechs Jahren wurde Guy Stern Ehrenbürger von Hildesheim.

„Mein Vater hat uns immer gesagt, die Verfassung der Weimarer Republik garantiere, dass uns nichts Schlimmes passieren kann. Wir sollten uns nur so lange ruhig verhalten, bis der Nazispuk vorbei ist“, sagt Guy Stern. „Verhaltet euch wie unsichtbare Gestalten und fallt nicht auf, hat er gesagt.“

Heute weiß er, dass das Gegenteil richtig ist. „Kanzlerin Merkel hat gesagt, dass Hass und Antisemitismus in diesem Land keinen Platz haben“, sagt er. „Das ist ein Wunsch, aber keine Tatsachenbeschreibung.“ Deswegen appelliert er an die Wachsamkeit der jungen Deutschen. „Ich habe erlebt, wie 1933 ein ganzes Land der Geschichtsverfärbung zum Opfer gefallen ist. Ich kann euch nur raten: Schult euer Denken und hinterfragt die Slogans derjenigen, die euch sagen, was ihr denken sollt.“

Würde er mit AfD-Chef Gauland debattieren? „Die Demokratie, dieses großartige und über 200 Jahre alte Experiment, lebt von der Debatte“, sagt Guy Stern. „Gauland scheint nicht unintelligent zu sein. Vielleicht kann ihn meine Geschichte entlarven. Und den Menschen zeigen, dass sein Weg eine Sackgasse ist.“