Hamburg. Es war tatsächlich einmal. Vor etwa acht Jahrzehnten war es, dass der deutsche Denker Walter Benjamin am Lauf vieler Dinge und vor allem an seiner Heimat, an seinem Deutschland verzweifelte. Es marschierte im Stechschritt auf den Abgrund jener Menschheitskatastrophe zu, die gerade von einem AfD-Bundestagsmitglied mit kalter Berechnung als „Vogelschiss“ verharmlost wurde.
Benjamin musste 1933 vor den Machthabern fliehen und nahm sich am 26. September 1940 das Leben. Bis dahin hatte diese Philosophen-Existenz aus Denken und Schreiben bestanden, aus Vermuten, Verwerfen, Formulieren und Fragen. Aus Thesen und Ideen, Konstruktionen von Wirklichkeit und Zukunft, Kunst-Theorien, Ideologien, Leidenschaften und allzu menschlichen Ängsten und Wünschen. Eindeutig klar war Benjamin zeitlebens nur wenig sofort, wenn überhaupt. Der Geist wanderte frei, so weit er nur konnte.
Selten klingt Brandneues derart nahbar und zugänglich
Wie man aus diesem Lebenslauf voller Geistesgrößen eine Oper amalgamiert, die ihr Publikum nicht sofort in intellektuelle Schockstarre versetzt? Ganz einfach, ganz schwer: Man verlässt sich auf seine Erzähl-Instinkte.
Peter Ruzicka, ehemaliger Staatsopern-Intendant, Festspiel-Chef und inzwischen wieder vor allem Komponist, ist mit seinem dritten Musik-Theater-Werk („Oper“ wäre ein zu pauschalisierendes, zu historisch gedachtes Etikett) ein Kunst-Stück gelungen, das im Sezier-Rahmen seiner hohen Ansprüche geradezu kurzweilig wirkt und in der Wahl seiner musikalischen Mittel eindrucksvoll gereifte Virtuosität beweist. Selten klang Brandneues derart nahbar und emotional zugänglich.
Nach den vergrübelten Bühnen-Meditationen über Celan 2001 und Hölderlin 2008 ist „Benjamin“ Ruzickas dritte, ambitionierteste und vielleicht gelungenste Auseinandersetzung mit Zeit, ihrer Kunst und ihrer Historie.
Lebensgeschichte wiederholt sich ja hin und wieder; hier wurde sie fragmentarisch in ein Einheitsbühnenbild (Heike Scheele) gestellt, in einen bildungsbürgerlichen Salon, nur noch Ruine seiner selbst, der tolerantere Epochen erlebt hatte und als Kulisse für Fantasien herhalten kann, weil dort alles denkbar war. Hier treffen sie sich, immer wieder, alle, die Benjamins Leben und sein mäanderndes Werk prägten oder es zumindest versucht hatten: Freunde und Weggefährten wie der Religionshistoriker Gershom S.(cholem), Mit-Denkerinnen wie Hanna A.(rendt), Quer-Denker wie Bertolt B.(recht). Als Subjekt der Benjaminschen Leidenschaft flattert die Schauspielerin Asja L.(acis) in Totalitarismus-Glamour-Uniformen als himmelhoch zwitschernde Ismen-Barbie dazwischen (so kalt wie toll: Lini Gong).
Ein Benjamin singt hier selten allein: Neben dem eindrücklich leidenden Bariton Dietrich Henschel, der bereits in „Hölderlin“ mitwirkte, kommentiert ein Benjamin-Double (Günter Schaupp) die Ereignisse. Sie alle deklamieren sich ihre Theorien vor und bauen Luftschlösser aus Gesellschaftsmodellen. Eine mitunter leicht spannungsarm referierende, aber auch erschütternde Geisterstunde.
All das lässt sich emsig vor- und nacharbeiten. Doch Ruzickas Musik setzt so etwas nicht zwangsläufig voraus, das ist ihre bewundernswerte, größte Stärke. Sie umwabert dunkel dräuend die aneinandergestellten Szenen, zieht ins Geschehen, das ja keine Handlung von A nach B sein soll. Sie baut Spannung auf und hält sie, auch über die erzählerischen Durststrecken, bei denen man statt Übertiteln zum besseren Verständnis auch Fußnoten befürchten könnte. Sie glättet und rauht auf, wo Regie und Libretto, beides von Yona Kim, eher dozieren. Ihr Spagat zwischen Abstraktion und plakativer Bebilderung – Weimarer-Republik-Anspielungen mit Kostümen wie aus Dix-Gemälden, Holocaust-Vorvorahnungen mit Kofferreihen – gelingt nicht immer.
Ruzicka ist sich selbst der beste Uraufführungs-Dirigent
Doch die Musik reißt es wieder raus, sie reißt förmlich mit. Natürlich ist Ruzicka sich selbst der beste Uraufführungs-
Dirigent, die Philharmoniker nahmen diese nicht gerade kleine Herausforderung gekonnt an, am Ende werden sie dafür, wie das gesamte Ensemble, dankbar bejubelt.
Beeindruckend auch die Chorleistung, sowohl der erwachsenen Profis als auch der Alsterspatzen-Gruppe. Ein erster musikalischer Höhepunkt ist die Chor-Szene, in der Ruzicka eine Eruption der Verzweiflung aus seiner Celan-Oper zitiert; ein zweiter eine geradezu ariose Passage kurz vor dem bitteren Ende, in der er zartbittere Melodie-Süße kredenzt. Zum Schluss erstirbt die Tragödie in einer Szene, die in ihrer Tristesse an das „Wozzeck“-Finale erinnert.
Weitere Vorstellungen: 6./10./13./16.6., 14./19.10. Karten 6,- bis 97,- Euro.
Informationen: www.staatsoper-hamburg.de
Mehr Artikel aus dieser Rubrik gibt's hier: Kultur & Live