Wolfsburg. Wer am Wochenende die Movimentos-Festwochen der Autostadt in Wolfsburg besuchte, erlebte zwei großartige Aufführungen, die gegensätzlicher kaum sein konnten: einmal Schiller, einmal Tanz.
Der Hamburger Thalia-Schauspielstar Philipp Hochmair ist inzwischen häufiger in TV und Kino als im Theater zu sehen (Sa 5.5., 20.15, „Blind Ermittelt“, ARD). Doch der Bühne gehört weiterhin seine Liebe, wie sein Soloabend „Der Mensch in seinem Wahn – Schiller-Balladen“ beweist, den er gemeinsam mit der dreiköpfigen Band Elektrohand Gottes (Tobias Herzz Hallbauer, Jörg Schittkowski, Alwin Weber) performte.
Dem eingangs nüchtern präsentierten Text der bekannten Schiller-Ballade „Der Ring des Polykrates“ folgen Nebelschwaden, fragmentierte Elektro-Klänge und von Hochmair expressiv vorgetragene Poesie, während er ein Metallstück bearbeitet. Schiller ist Sprachwucht, Pathos, fein gedrechselte Wort-Poesie. Hochmair und seine famose Band formen aus „Die Bürgschaft“ oder „Der Handschuh“ ein Sprach- und Geräuschkonzert zwischen Fluxus-Installation und Einstürzenden Neubauten.
Mal wird da das Rad eines Fahrrades mit einem Geigenbogen bearbeitet, mal eine Violine elektronisch verfremdet. Und die E-Gitarre raunt so mystisch wie jene von Avantgarde-Held Robert Fripp. Unterdessen wuchtet Hochmair in Tarnhose und Warnweste die gigantischen Textberge akkurat auf die Bühne, bedient ein Megaphon, raucht Zigarillo und übergießt sich, „Der Taucher“ rezitierend, mit Bier. Literatur und Poesie als mitreißender, gleichzeitig hoch konzentrierter Exzess. Entsprechend fällt die Zugabe mit „Das Lied von der Glocke“ gut halbstündig aus.
Diesem theatralen Furor stand im Kraftwerk wenige Minuten später ein fein schwebender Tanzabend gegenüber. Das legendäre Cloud Gate Theatre of Taiwan zeigte die Europapremiere der letzten Choreografie ihres Gründers Lin Hwai-min „Über die Insel Formosa“. Zunächst eine Insel aus purer Schönheit – gemeint ist Taiwan – imaginierend, kombiniert Hwai-min Poesie, Gesang, Kalligrafie und Bewegung, um eine Welt im Chaos zu beschreiben. Die in sich abgeschlossenen Texte spiegeln Veränderungen durch „Erdbeben, Gerüchte und Gewalt“. Es ist die Geschichte einer idealen Insel – und ihres Verlustes.
Die schöne Insel durchlebt dunkle Zeiten, die die 24 Tänzerinnen und Tänzer in virtuose Kampfbewegungen übersetzen. Elemente aus zeitgenössischem Tanz, Alltagsritualen und Kampfkunst kreuzen sie zu großartigen Tableaus und berührenden Duetten. Sprache wird zur Metapher für Identität und Erinnerung. In den kalligrafischen Visuals verschwinden die Zeichen oder fallen aus dem Kontext. Am Ende schwemmt eine gigantische Welle alles hinfort, zurück bleibt ein Tänzer auf leerer Bühne. Und gemäß dem buddhistischen Prinzip beginnt alles von neuem.
Es war eine der letzten Gelegenheiten, das Kraftwerk vor dem Umbau zu besuchen. Es gilt nun abzuwarten, in welchen Hallen es mit den so erfolgreich etablierten Festwochen künftig weitergeht.
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