Hamburg. Anton Bruckner hat die Musikwelt gespalten wie nur wenige Komponisten vor ihm. Wahre publizistische Schlachten wurden um seine kompromisslos strukturbetonte Schreibweise geschlagen, und es dauerte Jahrzehnte, bis der von Selbstzweifeln geplagte Komponist sich auf den Konzertpodien durchsetzen konnte. So weit war es noch nicht, als er 1887 nach zwölf Jahren Arbeit die letzten Änderungen an seiner Fünften Sinfonie vornahm. Das Stück sollte erst vier Jahrzehnte nach seinem Tod uraufgeführt werden, und vielleicht war das sogar besser so. Die gelehrte Machart der Sinfonie und ihre unerhörte Länge passten schlicht nicht in die Zeit ihrer Entstehung. Zukunftsmusik hat Bruckner da geschrieben.
In der Elbphilharmonie nun, im 21. Jahrhundert, scheint diese Musik zu Hause zu sein. So klang es jedenfalls am Sonntagmorgen beim Konzert des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg. Unter ihrem Chefdirigenten Kent Nagano brachten die Musiker das Stück zum Atmen wie ein lebendiges Wesen. Bruckner-Hochamt? Musiktheoretisches Proseminar unter besonderer Berücksichtigung des Kontrapunkts? Bewahre!
Die Holzbläser schlichen sich in den Klang hinein
Schon mit den ersten langen Noten, die sich übereinanderschichteten wie morgendliche Sonnenstrahlen im Gebirge, sanft grundiert von gezupften Tönen der Kontrabässe, straften die Künstler die These Lügen, Bruckner habe strikt absolute Musik komponiert. Ständig tauchten vor dem inneren Auge des Hörers neue Bilder auf. Sollte Bruckner das selbst nicht gewollt haben – Nagano muss es jedenfalls so gewollt haben, und das Orchester folgte ihm bereitwillig.
Was das Zusammenspiel angeht, wird es mit ihm nie langweilig. Für die allerletzte Präzision fehlt es ihm bisweilen an metrischer Stabilität und auch an Deutlichkeit der Schlagtechnik. Auch bei der Bruckner-Fünften klapperten einige Einsätze. Bemerkenswerter aber war, wie klar die verhexten, manchmal auch noch in der Betonung verschobenen Rhythmen ineinandergriffen. Wie blitzsauber die Geigen ihre Staccati von der Flöte übernahmen, wie sich die Holzbläser in den Klang hinein- und wieder aus ihm herausschlichen.
Nagano arbeitete die leisen Dialoge heraus, statt den Lautstärkeregler auf Überwältigung zu drehen. Die Spannung kam von innen. In seiner durchhörbaren Lesart hielt sich das Blech kultiviert zurück und leuchtete dann an den satten Choralstellen eher durch Farbe als durch Kraft. Gespenstisch, wie sämtliche Streicher die Luft fast unhörbar zum Zittern brachten, während in Hörnern und Flöte Blitze aufzuckten. Es kam übrigens kein Konzertbesucher auf die Idee, zwischen den Sätzen zu applaudieren. Umso größer war der Jubel hinterher. Was für ein Moment: Draußen herrscht Sommerwetter, und drinnen freuen sich 2000 Menschen an einer hochkomplexen, herausfordernd langen Sinfonie.
Philharmonisches Staatsorchester: Bruckner 23.4., 20 Uhr, Elbphilharmonie (ausverk.)
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