Hamburg

Wenn der Tod als unsentimentaler Musikabend kommt

| Lesedauer: 3 Minuten
Marcus Stäbler

Das Stück „Membra. Als ich im Sterben lag“ hatte Premiere im Forum der Musikhochschule

Hamburg. Eine fast kahlköpfige Frau erzählt vom Schmerz, „als wäre etwas in mir gerissen“. Von der anschließenden Krebsdiagnose und der Einsicht, dass die Wucherung bestenfalls verlangsamt, aber nicht mehr gestoppt werden könne. Und ein rüstiger älterer Herr bekennt, er sei eigentlich beschwerdefrei und denke kaum an den Tod.

Menschen wie diese sind die Gesichter des Stücks „Membra. Als ich im Sterben lag“, das im Forum der Musikhochschule seine Premiere erlebte und sich mit seinen Bildern und Klängen tief in die Erinnerung eingrub. Musikalisches Gerüst des Abends ist Buxtehudes „Membra Jesu Nostri“: ein barocker Passionszyklus, der sieben Körperpartien des gekreuzigten Jesus – von den Füßen über die Hände bis zum Gesicht – jeweils eine eigene Kantate widmet.

In seiner Abschlussinszenierung verzahnt der junge Regisseur Martin Mutschler die Kantaten mit kurzen Filmsequenzen. Die Videointerviews lassen Krebspatienten der Universität Kiel zu Wort kommen; sie sind auf die vordere Wand eines hölzernen, nach oben offenen Rechtecks mit Geländer projiziert, das – vielleicht als Andeutung eines Sommerhäuschen-Idylls – einige Meter über der Mitte der kargen Bühne hängt.

Weil der Abend nie rührselig wird, berührt er umso mehr

Darunter die fünf Sängerdarsteller, in Alltagskleidung und fast immer in Bewegung. Ihre Gliedmaßen rucken und zucken, als führten sie ein Eigenleben; manchmal scheinen die Füße am Boden festzukleben und sind nur mit Mühe loszureißen – wer kann sich schon so einfach vom Leben trennen. Trotz dieser anspruchsvollen Choreografie, die sie nur selten als Quintett gruppiert, wachsen die fünf Solisten zu einem Ensemble zusammen, das die feingliedrige Musik nuancenreich zum Leben erweckt. Das Resultat einer sorgfältigen Probenarbeit mit Felix Schönherr, dem musikalischen Leiter. Der junge Alte-Musik-Spezialist dirigiert die Aufführung von einer kleinen Orgel am rechten Bühnenrand aus, wo er das Geschehen mit dem vierköpfigen Ensemble rheinbarock einfühlsam begleitet.

Insgesamt verrät die Inszenierung eine große, nicht nur künstlerische Sensibilität. Regisseur Martin Mutschler lässt sowohl den Stimmen der Krebskranken als auch der Musik ihr eigenes Tempo, seine vielschichtige Auseinandersetzung mit dem Thema Sterben wird nie voyeuristisch oder sentimental. Im Gegenteil, sie hat sogar heitere Momente – wenn ein Patient seine Atemnot norddeutsch-lakonisch herunterspielt („bin halt ’n büsch’n püsterich“) oder die Sänger sich lachend mit Wasser bespritzen. Genießen wir den Augenblick ganz bewusst, es könnte unser letzter sein.

Gerade weil der Abend nie rührselig wird, berührt er umso mehr. Etwa mit dem kurz aufscheinenden Lächeln der kahlköpfigen Frau, als sie vom kleinen Rest Hoffnung spricht. Den will sie sich nicht nehmen lassen. Einer von vielen Momenten, die einen noch lange begleiten werden.

( stä )