Hamburg

Von ganzem Herzen Händel

| Lesedauer: 4 Minuten
Joachim Mischke

Der Große Saal der Elbphilharmonie und Countertenor Philippe Jaroussky harmonierten erneut bestens

Hamburg.  Sich für andere die eigene Seele aus dem Leib singen, das Wertvollste und Unfassbarste überhaupt entblößen, wie lässt sich das buchstäblich schaffen? Sobald sich ein Künstler mutig und verletzlich ins Rampenlicht einer Bühne begibt, sobald dort eine neue Welt eröffnet wird, die mit einem letzten Ton, einem letzten Wort, einer letzten Geste zu Vergangenheit wird und dennoch nachklingt in allen, die dabei ­waren, dann kann es gelingen, wahrhaftige Kunst aus schwingender Luft zu erschaffen. Und wer davorsitzt, dem bleibt nichts als Staunen. Und der Hauch einer ­Ahnung ­davon, wie erfüllt und wie leer man sich ­danach fühlen mag.

Philippe Jaroussky war wieder in der Stadt, zurück im Großen Saal der Elbphilharmonie, wo der Counter­tenor in den vergangenen Monaten bereits mehrfach brilliert hatte. Nun allerdings mit Raritäten eines Komponisten, den er in seinen Konzerten bislang eher ­angedeutet statt abendfüllend umarmt hatte: Händel. Dieser Gefühlsriese, der wie niemand sonst immer wieder ­entlarvend genau wusste, mit welchen genialen Tricks er seinem Publikum in wenigen Takten, mit nur einem melodischen Dreh die Herzen auswringen konnte. Das singt und spielt man nicht so eben weg.

Kein Wunder also, dass dieses am Ende so frenetisch gefeierte Konzert zunächst eine kleine, aber unüberhörbare Gelenkblockade hatte. Während Jaroussky die Möglichkeiten und das Einschüchterungspotenzial des Großen Saals schon für sich ­erkannt hatte, suchte sein kompetentes Alte-Musik-Begleitensemble ­Artaserse ­zunächst nach der richtigen Spiel-Position; er war dabei für es Leitstern und das Maß ­allen Tuns und Lassens. Einstiegstempi waren nicht immer auf einer Wellenlänge, die Fein­balance zwischen Streichern und dem Continuo hakte. Doch das gab sich, ­anschließend wurde und blieb es fein.

Ganz nebenbei räumte Jaroussky auch noch elegant das Vorurteil beiseite, nach dem die weniger populären der mehr als drei Dutzend Händel-Opern durchgängig aus weniger gelungenen Arien bestünden. Weil Jaroussky ­bewusst einen ­Bogen um die üblichen Standardwerke machte, waren die Entdeckungen aus „Tolomeo“, „Giustino“ oder „Ezio“ umso charmanter; spät­barocke ­B-Seiten, die mit den Publikumslieblingen auf Augenhöhe waren. Concerto-grosso-Portionen füllten als Stimmpausen-Kitt das umfangreiche Programm gekonnt auf.

Diese Stimme singt in ihrer eigenen Liga

Kurz vor seinem 40. Geburtstag ist ­Jaroussky jetzt in einem nicht unkritischen Alter, denn Countertenöre können nicht so einfach wie Soprane oder Tenöre bei ihrem Repertoire in tiefere Regionen ausweichen, falls ihre dauerangestrengten Höhen im Laufe der Dauertournee-Jahre mürbe werden sollten. Doch nachdem sich Jaroussky mit den ersten Arien frei gesungen und seinen Rhythmus im Raum gefunden hatte, war alles bestens, und die Magie begann zu wirken.

Diese Stimme singt ohne den Hauch eines Zweifels in ihrer eigenen Liga, sobald Jaroussky sich, ganz ohne Kostüm oder Kulisse, in den jeweiligen Helden verwandelt, ob nun tragisch, verliebt, verzweifelt, kampfeslustig, trauernd oder eifersüchtig rasend – er ist dann ganz bei sich, weil er so komplett außer sich ist. Eins geworden mit dem jeweiligen Charakter-Affekt dieser erbarmungslos gefühlsgefüllten Musik. Getragen von einer sanften Leichtigkeit und einer geschmeidigen Selbstverständlichkeit, die süchtig machen kann.

Wenn Jaroussky in der „Radamisto“-Arie „Ombra cara“, einer nahen Verwandten des „Ombra mai fù“-Hits aus „Serse“ (die letzte und dritte Zugabe des Abends), den Schatten der verstorbenen Gattin besingt und betrauert, bricht es einem zuverlässig und ­sofort das Herz. Wenn er in der tränenfeuchten „Imeneo“-Arie „Se ­potessero i sospir’ miei“ die Seufzer eines gebrochenen Herzens durchleidet, während der Rest des ­musikalischen Geschehens noch nicht mal mehr zu atmen wagt, bleibt die Zeit stehen. Sie bleibt einfach stehen, solange dieser Ausnahme-Sänger es will.