Hamburg. Das Wort Besucherrekord ist ein gern genommener Begriff. Und ja, es stimmt: Auch in diesem Jahr konnte das Reeperbahn Festival die Marke erneut höher legen. Mit 40.000 Popfans kamen 3000 mehr als im vergangenen Jahr auf den Kiez, um von Mittwoch bis in die Nacht zum Sonntag mehr als 600 Konzerte von 420 Bands und Solo-Musikern zu erleben. Auch die Zahl der Konferenzteilnehmer stieg um 300 auf 4700, wobei Delegationen aus 57 Nationen nach Hamburg gekommen waren – 15 mehr als 2016. Doch jenseits dieser reinen Mengenlehre war es bei der zwölften Ausgabe der großen Clubsause vor allem der Inhalt, der 2017 an Qualität und Vielfalt zulegen konnte.
Mit dem Kuppelbau The Dome etwa bot das Festival auf dem Heiligengeistfeld eine neue, eigens errichtete Spielstätte, in die Martin Kohlstedt in Sphären aus Klang und Projektion lud. Oasis-Bruder Liam Gallagher und Sängerin Beth Ditto brachten Star-Alarm auf die Meile. Und mit Songhoy Blues aus Mali oder Cifika aus Korea begannen die Organisatoren, tradierte Grenzen des westlich geprägten Pop einzureißen.
Auffallend waren die starken gesellschaftlichen Zeichen, die von St. Pauli ausgingen. Sei es das beherzte Plädoyer eines Herbert Grönemeyer für mehr Politik im Pop. Sei es der Start der Kampagne „Keychange“, ein von der Europäischen Union gefördertes Projekt, das Frauen in der Musikindustrie fördert. Festivalchef Alexander Schulz erklärte, bis 2022 den Gender-Gap, also die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, auf der eigenen Veranstaltung schließen zu wollen. Ebenfalls diskutiert wurde die Zukunft der Austragungsstätte selbst, die Stadt im Allgemeinen und der Kiez im Besonderen. Im Hamburg-Haus, das während des Festivals erstmalig im St. Pauli Museum eingerichtet wurde, sprachen Kultursenator Carsten Brosda, Oke Göttlich (FC St. Pauli) und Leif Nüske (Mojo Club) über die Entwicklung des Quartiers.
„Kein Hamburger geht mehr so richtig gern auf die Reeperbahn“, erklärte Göttlich mit Verweis auf Junggesellenabschiede, externe Events wie den Schlagermove und eine generelle Kommerzialisierung der Reeperbahn. Er lobte ausdrücklich jene, die überhaupt noch den Mut aufbrächten, trotz des „Ökonomisierungsdrucks“ wilde und ungewöhnliche „Unorte“ zu schaffen.
Der Anchor Award ging an die junge Londonerin Jade Bird
„Der Mythos funktioniert von außen noch verdammt gut“, erwiderte Brosda, betonte aber zugleich, dass ein bunter und interessanter Kiez nur aus der Kraft des Viertels heraus entstehen könne. Letztlich entfaltete sich eine beherzte Debatte darüber, wer den Mythos St. Paulis wie weitergestaltet. Eine Geschichte, die spätestens seit den Beatles in den frühen 60er-Jahren immer schon stark von Livemusik geprägt war.
Um diese Energie, die an rund 70 Spielstätten zu spüren war, zu würdigen, wurde 2016 der Anchor Award eingeführt. Auch in diesem Jahr besuchte eine prominent besetzte Jury acht Konzerte aufstrebender Bands und Solo-Künstler, um den verheißungsvollsten Newcomer zu küren. Die Wahl von Produzent Tony Visconti, Musikerin Shirley Manson, dem Duo Boy sowie weiteren Experten fiel auf die junge Londonerin Jade Bird. Eine Singer-Songschreiberin, die mit Gitarre und Stimme hohe Emotionalität entfaltete.
Großes Gefühlskino lieferte auch Owen Pallett mit seiner Kombination aus Pop, Folk und Klassik. Der Kanadier trat mit dem Orchester stargaze in der Elbphilharmonie auf, die am Sonnabend ihre Reeperbahn-Festival-Premiere feierte. Munter mischten sich da im Großen Saal gut durchgerockte Festivalgänger mit weniger popaffinen Konzerthaus-Touristen, die sich erst einmal erkundigen mussten, wofür sie Karten erworben hatten. Vielen vom Kiez herüber geströmten Musikfans erschien der Ausflug in die Hochkulturwelle am Hafen, als flögen sie kurz in einem sehr sauberen, sehr gut ausgeleuchteten Raumschiff. Aber die wirkliche Musik, die spielte dann doch auf St. Pauli.
Reeperbahn Festival 2018: Mi 19.9. bis Sa 22.9. (Partnerland: Frankreich), Frühbucher-Vier-Tages-Ticket zu 85,- unter
www.reeperbahnfestival.com
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