Lesung in Hamburg

„Hotel Laguna“: Als Malle noch nicht für alle war

| Lesedauer: 5 Minuten
Joachim Mischke
Cala Molins, eine Bucht im Nordosten von
Mallorca, einer Insel, die das deutsche Gemüt
geprägt hat wie keine andere

Cala Molins, eine Bucht im Nordosten von Mallorca, einer Insel, die das deutsche Gemüt geprägt hat wie keine andere

Foto: picture alliance

Der Journalist Alexander Gorkow hat für sein Buch „Hotel Laguna“ das Familienurlaubs-Ziel seiner Jugend besucht.

Hamburg.  Wenn dieses virtuos durchkomponierte Buch nach etwas riechen sollte, müsste es nach angebranntem Spanferkel riechen. Nach bretthart getrockneten Frotteehandtüchern, dem ersten Campari und dem stundenlangen Genuss jener gedankenfreien Müdigkeit, die man nur dummdösend im Schatten aushalten kann. Nach Kindheit und Vergangenheit, den endlos wirkenden Sommern, in denen nicht alles besser war, aber das meiste ganz anders. „Der Mensch, zumal der kleine, will im Sand spielen, und wenn er ins Meer steigt, jauchzt er.“

Fotoausstellung: "Ein anderes Mallorca"

An der Kindheit von Alexander Gorkow war eigentlich nichts Besonderes dran. Alle waren halbwegs normal, und genau deswegen waren alle irgendwie verrückt. Meerbusch-Büderich bei Düsseldorf, in der lärmenden Einflugschneise des Flughafens, der eine gesellschaftlich akzeptierte Erklärung dafür war, nicht alle Tassen im Schrank haben zu dürfen. Der Vater: Inhaber der mitteleuropäischen Generalvertretung eines Präzisionswerkzeugherstellers aus Cleveland, Ohio. Ein theoretisch rasend toleranter Mann mit sehr vielen Prinzipien, dazu mit Schwächen für ­Miles ­Davis’ „Bitches Brew“-Album, für Wagner und später sogar für Marvin Gaye. Ein Mann mit Stil, der eine Vorliebe für das nach Gebrauchsanweisung klingende Wort „unwiederbringbar“ hatte.

Wehmütig lustiges Durch­einander

In dieses wehmütig lustige Durch­einander war 1966 der kleine und niedliche Alexander geboren worden, Bruder einer Schwester mit langen braunen Haaren und einem Herzfehler. Kind eines Ehepaars, dem der Weltkrieg „die Biografie früh zerschossen hatte“ und das seine Sommerferien jahrelang in einem Urlaubsdorf im Nordosten von Mallorca verbrachte. „Das war kein Urlaub“, wird Gorkow später erkennend schreiben, „es war das Ziel von allem: Dies war das Leben. Dies war die Weite, das Blau.“ 1981 war damit Schluss, als das Erwachsenwerdenmüssen an Alexanders Teenager-Horizont auftauchte und – direkter, aber unerreichbar vor seinen Augen – die bronzefarbenen Brüste von Susanne aus Remscheid. „Der Strand macht uns tatsächlich zu Gestrandeten.“

Verwegen unrheinische Insel

Ständig wurde gegessen, viel und komplett. Teller ablecken aber nur, wenn man keine Gäste dabei hatte und unter sich war, am Ende einer eigenen Welt. Als Mallorca noch nicht auch „Malle“ war, sondern vor allem eine verwegen unrheinische Insel, fein weit weg, auf der die Einheimischen sich möglichst schweißsparend mit den spinnerten Teutonen arrangierten („Alexander, wieso macht ihr Deutschen euch das ­Leben immer so schwer? Was ist das?“). Die Insel der mit tödlicher Geschicklichkeit überfahrenen Kaninchen, die direkt danach auf den Touristentellern landeten.

Etliche Jahrzehnte später wollte Gorkow sich an seine Kindheitsbucht erinnern, an sein Leben als Kind. Aus dem Knirps, dessen Hinterkopf einer der Hotelkellner täglich eins mit dem Silbertablett verpasste, war inzwischen eine Edelfeder bei der „Süddeutschen“ geworden. Und die wollte für „Hotel ­Laguna“, diesen fingerdick mit Nostalgie panierten Text, wissen: Wie war das damals in der Bucht von Canyamel, als sie noch nicht von kalt kalkulierten Tourismus-Zielgruppen besucht wurde, sondern von echten, eigenwilligen, liebenswerten, bekloppten Menschen? Wie waren wir Gorkows damals? Und warum? Was war das für eine Welt, ­damals, in der es noch keine geizgeilen Scharfrichter-Bewertungsportale für ­alles und jeden gab, dafür aber den ­beruhigenden, jugendfrei groovenden Erdnussflips-Sound von James Last?

Plädoyer der Verteidigung und Verklärung

Eben nicht durch die berufstypische Überhöhung, unangreifbar und kalt, gelingt dem Zeitzeugen sein Plädoyer der Verteidigung und Verklärung. Gorkow seziert nicht aus der Distanz, er zieht stattdessen höchst amüsant und liebevoll blank, beschreibt mit wohlformulierter Verachtung die enthemmten Touristen und ihre Alles-inklusive-Reservate von heute („Mittelalter mit WLAN und Sonne“), kein Vergleich zur Beschaulichkeit der frühen Jahre. Er würzt mit gemeiner Akkuratesse die Dialoge zwischen Anneliese und Rudi Gorkow aus Meerbusch-Büderich, die perlen, als hätte Loriot sie gedrechselt („Ich möchte bitte ausreden dürfen.“ – „Ich verlasse jetzt meinen Garten.“).

„Hotel Laguna“ ist eine Pauschalzeitreise, Retro-Charme mit Vollpension, Urlaubslektüre, die sich auch nach der Rückkehr in den durchgetakteten, fremdbestimmten Alltag gut und mit Selbsterkenntniszuwachs weglesen lässt. Denn natürlich ist Alexander Gorkow clever genug, um sich und die anderen Gorkows und die manchmal sympathisch schlafmützigen Mallorquiner, die er als kleiner Racker traf und als vom Leben gegerbter Familienvater wiedertraf, als Teile des großen Ganzen zu verstehen und zu beschreiben. Er schreibt über die Gorkows in uns.

Wäre der Empfehlungs-Algorithmus von Online-Buchhändlern nicht so eine üble Bevormundungs-Geißel, dieses Buch hätte dort ein Ehrenplätzchen verdient, in diskreter Nachbarschaft zu Prousts Meisterwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, zu David Foster Wallaces Kreuzfahrer-Passionsgeschichte „Schrecklich amüsant ...“ und ganz ­besonders zu Matthias Brandts Kanzlerfamilien-Tagebuch „Raumpa­trouille“. Und allein für die lakonische Kurzbeschreibung eines dieser Jungdynamiker-Paare, denen man ja nirgends entkommt, hat Gorkow Szenenapplaus verdient.

Sie endet mit purem Reporterglück: mit dem garantiert wahren Quengel-Schrei einer durchdrehenden De­signer-Mutter, zu dem man sich das bockige Stapfen noch uneingelaufener Birkenstocks (Weichbettung, Farbton Magic Galaxy Bright Rose) als Tonspur denken darf: „Hagen, weißt du was?
I am sick of it all.“ Manche Undinge ­ändern sich nie, erst recht nicht im Urlaub.

Lesung: 29.10., 17 Uhr, Laeiszhalle, Kl. Saal, mit Matthias Brandt. Eintritt: 16,50 Euro