Hamburg-Veddel, Immanuelkirche, wo das Schauspielhaus seit knapp drei Jahren seine Außenstelle New Hamburg eingerichtet hat: Feldherr Agamemnon will seine Tochter Iphigenie (Gala Othero Winter) mit dem Krieger Achilles verheiraten. Polterabend, es wird getanzt, es werden anzügliche Spielchen durchgestanden, die Braut wird zugerichtet. Das ist körperlich, sinnlich, fröhlich, in den Anweisungen der Zeremoniemeisterin (Rabea Lübbe) allerdings auch zwanghaft. Iphigenie hat nämlich Erwartungen zu erfüllen: kein Alkohol, keine Körperhaare, allzeit straffe Brüste. Auf der migrantisch geprägten Veddel klingt das durchaus politisch. Außerdem: Hat Agamemnon mit seiner Tochter da eigentlich eine Zwangsverheiratung vor?
Winter spielt mit fünf Veddelerinnen, Fatoumata Aidara, Hava Bekteshi, Akile Bürke, Zumreta Sejdovic und Nicole Wiemers, und die lassen Erinnerungen an ihre eigenen Hochzeiten einfließen: „Ich kannte diesen Mann doch gar nicht!“ Romantik geht anders, da kann Derya Yildirim ihrer Saz noch so liebliche Töne entlocken.
Regisseurin Paulina Neukampf holt den antiken „Iphigenie“-Stoff konsequent in die multikulturelle Gegenwart der Veddel, sie holt aber auch Schauspielhaus-Star Gala Othero Winter in eine Gruppe Elbinsel-Akteurinnen, und inszeniert dieses Aufeinandertreffen nicht etwa als Kräftemessen zwischen preisgekröntem Profi und halbprofessionellen Laien, sondern als nicht immer angenehme Begegnung zweier einander fremder Positionen. Winter ist hier ein Eindringling, aber das liegt in der Stücklogik, in der Iphigenie die Fremde bleibt, die zwischen verschiedenen Akteuren zerrieben wird.
Winter ist entsprechend dann am besten, wenn sie keine Handlung vorantreiben muss, sondern großäugig auf das schaut, was sich vor ihr entfaltet, bebend vor Aufregung. Wer den Mythos kennt, weiß, dass Agamemnon weit Schlimmeres mit seiner Tochter vorhat als eine arrangierte Ehe, und dieses Unausgesprochene treibt auch den Abend an: eine Angstlust, die die Körper beinahe zerreißt. Am Ende gleitet „Iphigenie“ doch noch in eine Solonummer Winters, näher am Tanz als am Theater. Wahrscheinlich ist das nötig, um die Handlung zu einem Abschluss zu bringen – interessanter aber war, was zuvor passierte, was Veddel und Mythos auf einen faszinierenden Nenner brachte. Eine Sternstunde.
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