Hamburg. „Wahnsinn ist Revolte“, behauptet einer, „ist Kunst!“ Aber da ist er bei Raspe an den Falschen geraten, bei Dr. Raspe, dem jungen, idealistischen Arzt, der gerade seine erste Stelle nach der Uni in der geschlossenen Psychiatrie angetreten hat. Gerne könne der Schwätzer ihn ins Krankenhaus begleiten, aber Vorsicht: „Die Irren sind wirklich irre.“ Mit Revolte ist da nichts, glaubt der Mediziner, allein: So sicher kann er sich nicht sein …
Rainald Goetz erlaubt praktisch nie, sein 1983er-Romandebüt „Irre“ für die Bühne zu adaptieren. Für den letztjährigen Start-off-Preisträger Henri Hüster machte der Büchnerpreisträger allerdings eine Ausnahme. Die Idee, alle Figuren von vier Darstellern spielen zu lassen und ansonsten die zweiteilige Romanstruktur – Kakophonie der Stimmen und Ästhetiken zu Beginn, trügerische Ordnung am Ende – beizubehalten, schien überzeugend.Tatsächlich ist die Inszenierung im Bahrenfelder Lichthof trotz beherzter Kürzungen nahe am Goetz-Sound: ein Teil Karikatur, ein Teil Einfühlung, ein Teil Reflexion und ein ziemlich großer Teil ironisch gebrochene Romantik – fast wie im Roman.
Für Vasna Aguilar, Aurel von Arx, Anna Eger und Lukas Gander freilich ist die Inszenierung eine Tour de Force. Nicht nur, dass die Darsteller in atemberaubender Geschwindigkeit zwischen Rollen, Stimmungen und Haltungen wechseln, sie tanzen, singen, kämpfen sich durch das im ersten Teil auf der Szene platzierte Publikum (Bühne: Lea Burkhalter). Mal als Physiker, dem sein Fachgebiet die Sinnlosigkeit des Daseins vor Augen führt, mal als Grübler, der sich in den eigenen Argumenten verstrickt, mal als hyperaktives Kind, das immerhin eine traurige Moritat hergibt: „Never relax.“
Goetz wusste, dass er die Vorlage vor dem Abdriften in die absolute Vielstimmigkeit wieder einfangen musste, weswegen der Roman „Irre“ nach einiger Zeit in einen gradlinigen Entwicklungsroman mündet. Aber so stimmig Hüsters Inszenierung ästhetisch ist: Diese Kurve nimmt der Abend nicht ganz. Eine echte Erzählung entwickelt sich auch nach der Pause nicht, es bleibt beim Nachdenken über den Akt des Erzählens. Und doch: Man spürt, dass dieser Regisseur etwas will, man spürt, dass er seine Mittel im Griff hat, man spürt auch, dass er bereit ist, das freie Theater an seine Grenzen zu führen. Und zwar ganz konkret – am Ende des rund dreistündigen Abends wird die Luft im beengten Lichthof knapp. Egal, das ist es wert.
„Irre“ wieder am 27./28./29.1., Lichthof
Theater, Mendelssohnstraße 15, Karten unter
T. 85 50 08 40; www.lichthof-theater.de
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