Konzert

Historischer Auftritt von Daniil Trifonov in der Laeiszhalle

| Lesedauer: 6 Minuten
Joachim Mischke
Erschöpft nahm Daniil Trifonov die stehenden Ovationen des vollständig begeisterten
Laeiszhallen-Publikums
entgegen

Erschöpft nahm Daniil Trifonov die stehenden Ovationen des vollständig begeisterten Laeiszhallen-Publikums entgegen

Foto: Malzkorn

Pianist Daniil Trifonov gab ein denkwürdiges Konzert. Ein Abend, der an das Hamburg-Debüt von Vladmir Horowitz denken ließ.

Hamburg.  Klavierspielen, was für ein furchterregend großer, kleiner Begriff ist das, bei gründlicherem Nachdenken. Klavierspielen, das soll doch im Idealfall bedeuten: tun können mit dem Spielzeug, was man will. Locker bleiben, in sich ruhen und sich um nichts in der Welt kümmern außer den Moment. Und der Flügel, dieses erbarmungslose Monster, diese lautlos rumpelnde Notendrückmaschine aus Holz, Metall, Filz und möglichen Fehlern, ist auf einmal Teil des eigenen Körpers, es atmet, fühlt und denkt mit. Der Moment, mit dem Daniil Trifonov im Großen Saal der Laeiszhalle klarmachte, dass Klavierspielen so im Flow sein muss, aber fast nie sein kann, dauerte knapp zwei Stunden.

Es könnte einem geradezu historisch werden ums Rezensenten-Gemüt an solchen Ausnahme-Abenden. Denn vor fast genau 90 Jahren, im Januar 1926, hatte ein anderer junge Russe, damals ein Jahr jünger als Trifonov, auf genau jener Bühne gespielt und wohl auch gezaubert und später über sein Debüt verzückt gesagt: „In Hamburg liebten sie mich vom ersten Ton an.“ Horowitz war das. Der Horowitz.

So weit möchte man schon mal ausholen dürfen, wenn einer wie Trifonov auf ausgerechnet diese Bühne zurückkommt, sich an den Flügel setzt und mit einer Hand, mit fünf Fingern nur, mehr vollbringt als andere, selbst wenn sie vier statt zwei Hände dabeigehabt hätten. Brahms’ Bearbeitung der Bach-Chaconne, die ursprünglich ja für Violine gebaut war, spielte Trifonov mit links. Buchstäblich, sprichwörtlich. Musik wird Architektur, Struktur wird hörbar, wenn so etwas passiert. D-Moll, jahrhundertelang die Tonart der sehr tiefen Abgründe, die Trifonov mit einem eigenen Klangcharakter versah, dunkel, finster fast, auf jeden Fall aber zu keiner gütlichen Einigung mit dem Schicksal bereit. Ein Stück, das man kaum in den Griff bekommt, weil der Innendruck so enorm hoch ist. Fünf Finger, mehr sah man nicht, die andere Hand hielt immer wieder kurz den Steinway-Flügel fest, damit er nicht abhebt womöglich. Und doch baute da jemand eine von allem Unnötigen befreite Eremiten-Welt aus Nichts und Noten, mit links. Und vorne links im Dunkel des Laeiszhallen-Parketts saß an diesem Abend yodahaft die Pianisten-Legende Menahem Pressler, mit 92 fast viermal so alt wie Trifonov. Vielleicht nicht das schlechteste Omen.

Dieses Konzertprogramm von Trifonov, kurzfristig erweitert, umgestellt und sinnstiftend vertieft, war ja nicht nur eine Leistungsschau, die andere Pianisten frustriert ins nächstbeste Umschulungs-Seminar treiben kann, sie war auch eine lange Variationskette über das Virtuosentum im Rampenlicht an sich. Es begann mit Bachs „So und nicht anders“-Reinheitsgebot und endet mit Rachmaninows Forderung, mit ungebremster Subjektivität auf volles Risiko zu gehen, sich in Rubati und den Zeitlöchern dieser überbordenden Musik fallen zu lassen.

Nach der ehrfürchtigen Bach-Essenz des Musikhistorikers Brahms, die Geometrie mit Formbewusstsein und Bescheidenheit verbindet, folgte in hellem E-Dur die Spielerei Rachmaninows mit Präludium, Gavotte und Gigue BWV 1006. Derselbe Flügel, derselbe Tasten-Beweger, doch klanglich Welten entfernt, spätromantisch aufgeladen, mit genau jener gut dosierten Mischung aus Überschwang und Raffinesse, die den Virtuosen vom Schau-Spieler zu trennen weiß.

In Liszts Bearbeitung der g-Moll-Orgelfantasie und –fuge von Bach hüpften die ersten Tönchen zunächst wie ein Kieselstein über einen Teich im Frühlingslicht. Eine Reise beginnt mit dem ersten Schritt, jede Bach-Fuge mit dem ersten Ton, dann blüht und gedeiht sie. Trifonov spielte auch diese Episode seines Reifungsprozesses als Musterschüler mit viel Freiheitsliebe. Ganz langsam und sehr geschickt steigerte er die Rauschmittel-Dosis.

Würde Trifonov als Gestalter eines Klavierabends schlichter ticken, hätte er wahrscheinlich zum Abräumen mit den Paganini-Etüden von Liszt begonnen, die nun erst nach der Pause kamen. Höllisch schwer, himmlisch schön, wenn sie gelingen und die Finger sich nicht wenigstens verknoten oder gleich brechen. Doch Trifonov promenierte durch das halbe Dutzend Höchstschwierigkeiten hindurch, als ginge es um niedliche Vorstufen zu „Hänschen klein“. Immer wieder wand er sich bandscheibendurchbiegend tief herunter Richtung Tastatur, um sich genau anzusehen, was da passierte. Vielleicht wollte er auch die eigenen Finger durchzählen, ob es immer noch nur zehn sind, wer weiß das schon. Es tremolierte, doppeloktavte und notengirlandete jedenfalls prächtigst aus ihm heraus, weltenweit jenseits von manuellen Schwierigkeiten und mit einem Klangfarbenspektrum, das enorm abgestuft war. Und das kleine Spitzentönchen, das aus den Notenmengen von „La Campanella“ als Porzellanglöckchen herausblitzt – jedes verdammte Mal perfekt, mühelos.

Dann aber noch mal Rachmaninow, als ob nicht schon klar wäre, dass auch das keine Herausforderung ist und erst recht kein Angstgegner mehr. Die erste Sonate, Opus 28, anfangs von Goethes „Faust“ inspiriert, ein Stück, in dem man sich verlieren kann, weil es wabert und dämmert und unfassbar uneindeutig ist. Überall darin ließ Trifonov Musik geschehen. Musik mit Horizont, mit Weite, Tiefe, Breite und Höhe, mit Klangfarben, die mitunter an ein Gemälde von Turner erinnerten.

Das Stück, das Trifonov nicht spielen kann, muss wohl erst noch komponiert werden. Am Ende, zurück im Hier und Jetzt, stand er wie aus dem Wasser gezogen im Bühnenlicht und wurde gefeiert. Und Nostalgiker dürfen sich ihre Konzertkarte nun einrahmen.