Kultur

Der letzte Gentleman

| Lesedauer: 5 Minuten
Armgard Seegers

Jane Gardams Roman „Ein untadeliger Mann“ erzählt eine wunderbare Geschichte

Zwei Seiten Dialog gehen dem wunderbaren Roman von Jane Gardam über ein bewegendes Leben voraus. Da unterhalten sich ein paar Juristen beim Essen darüber, dass eben ein berühmter, beliebter und ehemals sehr erfolgreicher alter Kollege gegangen ist, „Old Filth“ genannt. „Der muss doch schon seit Jahren tot sein“, wundert sich der eine, und der andere nennt ihn „Quastenflosser“, als entstamme Filth der Vorvorsteinzeit.

Und irgendwie erzählt ja Jane Gardam auch eine Geschichte aus einer vergangenen Zeit, der letzten Phase des britischen Empires. „Old Filth“, oft sogar „Good Old Filth“ wird der voll­endete Gentleman Edward Feathers respektvoll genannt, weil er es einst in Hongkong als Kronanwalt für Baurecht zu Ruhm und Erfolg gebracht hat. „Filth“ ist nicht etwa ein Hinweis auf mangelnde Körperpflege, sondern ein Akronym des Ratschlags „Failed in London Try Hongkong“, den Feathers befolgt hatte. So war er zu seinem Spitznamen gekommen. „Sein Erfolg in Hongkong war so phänomenal gewesen, weil er entspannt, beherrscht, fleißig und talentiert war.“

Filth wurde in Malaysia geboren, seine Mutter war bei der Geburt gestorben, sein Vater, ein britischer, am Kind äußerst desinteressierter Kolonial­beamter, hatte ihn zu Eingeborenen gegeben. Edward wird wie viele dieser Kinder mit vier oder fünf Jahren aus seiner gewohnten Umgebung gerissen und zurück ins Empire gebracht. Dort soll er eine englische Erziehung genießen. „Raj-Waisen“ nennt man diese Kinder, auch Jane Gardams Mann zählte dazu. Später geht Feathers nach Oxford. Förmlichkeit, Korrektheit, untadelige Manieren bilden sein Gerüst, das ihn von allen Zumutungen des Lebens schützen soll. Tut es aber nicht. Aber als er nach Asien zurückkehrt, fühlt er sich sogar wieder wohl. „Ihm war eine Vertrautheit mit asiatischen Sprachen geblieben, außerdem empfand er auch eine Nähe zur asiatischen Seele... Sein ganzes Leben hatte er chinesische Werte hochgehalten: die Höflichkeit, die unbedingte Gastfreundschaft, die Freude am Geld, die Wertschätzung des Essens, die Diskretion, die Cleverness.“

Seine lange und herausragende Karriere im Fernen Osten, seine fast ebenso lange Ehe mit Betty, seine lebenslange Feindschaft mit einem anderen Anwalt stehen ebenso im Mittelpunkt des scharfsinnigen und federleichten Romans wie die verpfuschte Jugend des Jungen, der in die Hände einer sadistischen Pflegefamilie gerät und emotional vollständig blockiert.

Filth verbringt nun seinen Ruhestand als beinahe 80 Jahre alter Witwer auf dem Lande in Dorset. Sein Privat­leben ist eng und eintönig. Zwar kann er sich eine Haushälterin leisten, ihren Namen aber kann er sich nicht merken. Zu seinem Unglück ist ins Nachbarhaus Sir Terry Veneering gezogen, sein lebenslanger Feind aus Hongkong, der alles verkörpert, was Feathers zuwider ist: Er ist arrogant, ein Emporkömmling, trinkt zu viel und war, wie sich erst später herausstellt, kurzzeitig mal der Liebhaber von Feathers Frau Betty. Erst Bettys Tod eröffnet im Inneren von Filth eine Landschaft von erstaunlicher Komplexität, Fülle und Fragilität. Warum er zeitlebens bei Aufregung stottert, wie ihm seine teuren Anzüge, die Rituale in Cricket- und Jockeyclub als Rüstung gegen all die Lieblosigkeit und Kälte dienen, die ihm eingeimpft wurden, all das erzählt Jane Gardam, schwere- und mühelos zwischen Gegenwart, naher und ferner Vergangenheit wechselnd in einer großartigen Milieustudie.

Filth wendet sich seiner Vergangenheit zu, fährt mit dem Auto zu Verwandten, begegnet seinem verhassten Rivalen und erlebt ein Aufbrechen in eine ihm völlig unbekannte Welt. Denn, wie sich herausstellt, unter dem so wohlgeordneten Leben liegt das Chaos.

Menschlich, einfühlsam und humorvoll beschreibt die mit einigen Literaturpreisen dekorierte Jane Gardam das Leben vor dem Zerfall des britischen Empires In England ist die 1928 Geborene eine renommierte Schriftstellerin. Ihr „untadeliger Mann“ ist der erste Teil einer Trilogie, deren andere Teile – erzählt aus der Perspektive von Betty und der von Terry Veneering – nun endlich auch bald auf Deutsch erscheinen werden. Gardam, die in der Eröffnungsszene Filth ein wenig mysteriös erscheinen lässt, indem andere sich über ihn austauschen, entblättert in wunderbar eingängiger Sprache dieses Leben, das so gar nicht durchschnittlich schien, als beschädigt, betroffen und besonders.

Genau das lässt sich wohl über jedes Leben sagen. Und dennoch darf kaum jemand darauf hoffen, dass sein Leben so differenziert, mitfühlend und leuchtend, so freundlich und voller Empathie Eingang in die Literatur finden wird. Das aber macht diesen Roman so besonders.