Anne Lenk inszeniert Elfriede Jelineks Text „Winterreise“ als Wortkonzert mit fünf großartigen Thalia-Darstellerinnen.

Hamburg. Wenn Elfriede Jelinek etwas auf dem Herzen brennt, gibt es kein Pardon. Es muss zwanghaft aufgeschrieben und in erbarmungslosen Wortkaskaden vor- und rückwärts durchdekliniert werden. Die junge Regisseurin Anne Lenk hat nun das poetischste und persönlichste Werk der Literaturnobelpreisträgerin im Thalia in der Gaußstraße inszeniert, „Winterreise“, 2011 verfasst und mit dem Mülheimer Dramatikerpreis geehrt.

Der Titel verweist auf den gleichnamigen Liederzyklus von Franz Schubert. Nicht ohne Grund ist auch die Inszenierung aufgebaut wie ein Textkonzert. Mit langgezogenen Armen hängen die fünf Darstellerinnen an einem mit extralangen Beinen ins Surreale verlängerten Flügel vor einem schweren roten Vorhang (Bühne: Judith Oswald) und mühen sich beim Bedienen der Tasten. Mit strengen Locken- und Zopffrisuren versehen und in eng geschnürte Tüllkleider gezwängt (Kostüme: Silja Landsberg) – doch der bürgerliche Eindruck täuscht. Die roten Wanderersocken und Bergschuhe an den Füßen verweisen darauf, dass hier Menschen unterwegs sind, heimatlos, ratlos, einsam, gescheitert und am Ende. Fremde in der Welt. Denn wie heißt es so schön bei dem Komponisten: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus.“

Grandios garstiges Wortduell in breitestem Österreichisch

Erst im Chor, dann im zeitlich versetzten Kanon und zuletzt in formal eindrucksvollen Soloauftritten legt jede der furiosen Darstellerinnen ihr eigenes Leiden an der Welt dar. Es beginnt mit verpassten Gelegenheiten: „...das Vorbei, an dem bin ich immer schon vorbeigekommen, das Vorüber, ach vorüber, habe ich immer schon eingeholt...“, klagt das Quintett. Grotesk grimassierend, dabei hysterisch quietschend präsentiert sich als Gast erstmals die junge Castorf-Schauspielerin Britta Hammelstein, wie eine abgehalfterte Schauspieldiva über die Zeit lamentierend.

Es ist die reinste Freude, ihrer lustvollen Übertreibung zuzuschauen. Gemeinsam mit Oda Thormeyer legt sie ein grandios garstiges Wortduell in breitestem Österreichisch hin, als deren Inhalt in düsterer Keller-Metaphorik unschwer der Natascha-Kampusch-Fall zu erkennen ist. Wundervoll auch, wie Karin Neuhäuser mit Langhaarzopf – wie ein trauriger Clown eine Herztasche in der einen Hand, mit der anderen ein Miniklavier hinter sich her ziehend – in Anspielung auf die Mutterbeziehung der Autorin von der unergiebigen Suche nach der bedingungslosen Liebe erzählt.

Bankenkrise kommt unters verbale Seziermesser

Neben den persönlichen kommen auch gesellschaftliche Themen wie die Bankenkrise unters verbale Seziermesser. Anne Lenk vertraut ganz auf den Zauber des Surrealismus und ansonsten der Schauspielkunst bei dieser hochmusikalischen Feier des Wortes. Was die fünf Darstellerinnen hier abliefern, ist höchste Virtuosenklasse. Mit würdevoller Verzweiflung spricht Patrycia Ziolkowska in langer Wollunterhose den mit Gedächtnisverlust und Heimaufenthalt ringenden Vater der Autorin („Solang ich geduldig war, wurde ich geduldet. Jetzt bin ich aus mir selbst verwiesen worden, ich bin weggewiesen worden“). Bevor sich zu guter Letzt Oda Thormeyer in einer Einlage zwischen Komik und Krafttraining in einen Irrsinnsmonolog hineinredet.

Im Zuschauer rauschen die Worte nach. Es liegt etwas Befreiendes darin, diesen Gefühlsausbrüchen zwischen fragil und ätzend nachzuspüren. Darin liegt der Reiz dieser Inszenierung, die ganz offen auf einen Bruch zwischen Form und Inhalt setzt.

Am Schluss macht sich bei den Darstellerinnen dann doch Erschöpfung breit, als „Der Leiermann“ von Schubert in Phrasen aufgelöst erklingt. Ein Gesang von verpassten Möglichkeiten. „Das wäre was gewesen!“, sagt Oda Thormeyer. Auf diesen sehenswerten Abend über Vergebliches, Versäumtes und Vergeigtes trifft das nicht zu.

„Winterreise“ 20.1., 23.1., 22.2., 5.3., Thalia in der Gaußstraße, Gaußstraße 190, Karten T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de